Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Shraga Elam
 

Muslim-Markt
interviewt Shraga Elam - israelischer Recherchierjournalist und Friedensaktivist

19.8.2005

Shraga Elam wurde 1947 in Haifa geboren. Sein Vater Julius Sündermann floh 1934 aus Nazi-Deutschland, wo viele seiner Familienmitglieder umgebracht wurden, nach Palästina, wo er seine Ehefrau Yehudit kennen lernte.

Shraga Elam nahm als Soldat der israelischen Armee an drei Kriegen teil. Heut ist er Recherchierjournalist und Friedensaktivist. Zu Elams Spezialgebieten gehören, außer dem Israel-Palästina-Konflikt und Finanz-Affären, auch historische Forschungen zum NS-Judeozid, zur Rolle der Jewish Agency während der Shoa und zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg.

Sein Buch "Hitlers Fälscher - Wie jüdische, amerikanische und Schweizer Agenten der SS beim Falschgeldwaschen halfen" beschreibt, wie ein wichtiger Nazi-Agent Unterschlupf in Tel Aviv fand und vom Geheimdienst Mossad und von der Regierung geschützt wurde. Elam war es, der im Dezember 2000 auf den israelischen Masterplan "Operation Dornenfeld" hinwies, der seit Anfang der jetzigen Intifada Schritt für Schritt umgesetzt worden ist und als Schlussziel die Vertreibung der Palästinensern vorsieht. 2004 gewann Elam den renommierten australischen Journalistenpreis Gold Walkley Award für seine Enthüllung über Schweizer Konti australischer Prominenter bei einer israelischen Bank.

Shraga Elam ist israelischer Staatsbürger, lebt aber seit 1979 in Zürich (Schweiz) und hat 2 Kinder.

MM: Sehr geehrter Herr Elam. Erlauben Sie uns gleich am Anfang die Frage: Sind sie Jude?

Elam: Von der Abstammung her ja, ich bin nicht gläubig und ich betrachte mich zuerst als Mensch und beurteile auch andere Menschen nach ihrem Charakter und nicht nach irgendwelchen nationalen oder religiösen Zugehörigkeiten.

MM: Was ist denn ihre Meinung als informierter Außenstehender zu dem Unterschied zwischen einem Juden und einem Zionisten?

Elam: Es gibt mehrere Unterschiede. Rein geschichtlich betrachtet war der Zionismus eine säkulare Bewegung und sehr viele religiöse Juden waren an und für sich dagegen, weil grundsätzlich sie die Einstellung teilten, dass jedwede Form der Erlösung von Gott kommen soll und nicht durch Menschen. Heute sind diese Juden leider eine kleine Minderheit. Daher sehen ultraorthodoxe und andere Juden bis heute einen Widerspruch zwischen ihrer Auffassung des Judentums und dem Zionismus. Der Zionismus als solcher beansprucht sämtliche Juden zu vertreten und stellt sich als politische Lösung für Juden in Palästina, also im nahen Osten, dar. Diese Meinung teilen viele Juden nicht. Israel beansprucht sämtliche Juden zu vertreten, dies wird nicht von allen Juden anerkannt.

Zu definieren, was ein Jude ist, ist offensichtlich eine sehr schwierige und heikle Frage. Wenn es nur nach religiöser Zugehörigkeit ginge, wäre es kein Problem, dann wäre es klar. Jedoch betrachten sich die meisten Juden auch als eine Nation, dadurch wird es noch ein stückweit schwieriger. Aus meiner Sicht sind Nationen weitgehend eine Fiktion, es geht dabei nicht um etwas real Existentes. Wenn man versuchen würde zu präzisieren, was eine deutsche Nation ist, dann kommt man schon schnell in Schwierigkeiten. Hier in der Schweiz umso mehr, in der Schweiz definiert man sich über eine Art „Willensnation“, es gibt keine gemeinsame Sprache und keine richtige gemeinsame Kultur. Es gibt allenfalls eine gemeinsame Grenze, aber das ist auch schon alles. Ich denke, wenn ich die Realität betrachte, kann ich nur eine tautologische Definition einer Nation finden, d.h. eine Nation ist eine Gruppe von Menschen, die sich als Nation betrachten. Aus meiner Sicht sollte man diese nationale Phase überwinden und dann sieht es vielleicht schon ein bisschen besser aus. Im Speziellen möchte ich mich hier auf die Situation im heutigen Israel, in Palästina, beziehen, wie es doch wäre, wenn alle dort lebenden Menschen ihren Nationalismus überwinden würden.

MM: Auf der Seite des Judentums oder des Zionismus ist es schon kompliziert genug, wie wird es dann erst, wenn man dann die gegnerische Seite betrachtet oder anders ausgedrückt; wie können Sie den deutschen Verantwortlichen erklären, dass ein Antizionismus, der sich gegen eine Ideologie wendet, nicht identisch ist mit einem Antisemitismus, der Rassismus wäre?

Elam: Grundsätzlich muss man natürlich differenzieren. Auf der einen Seite betrachte ich den Zionismus als schädlich für die Juden selber, und bin damit bei weitem nicht der Einzige, und insofern ist es ganz klar; man kann nicht Antizionismus mit Judenhass, mit Judeophobie - ich bevorzuge diesen Begriff vor dem des Antisemitismus - gleichsetzen. Auf der anderen Seite ist es schon so, dass verschiedene Leute sich damit zumindest in einer Grauzone bewegen oder bei ihnen mischen sich antijüdische Vorurteile und Gefühle in ihre antizionistischen Haltung. Und dieses ist ein echtes Problem, dadurch gibt es gewisse Probleme mit der antizionistischen Anschauung. Grundsätzlich betrachte ich die Frage nach dem Existenzrecht Israels, wie bei dem aller anderen Nationen auch, als eine absolut legitime Fragestellung, wobei man immer im Einzelfall die Motive der jeweiligen Kritiker beleuchten muss, und sehr auf rassistische Beweggründe achten muss.

MM: Sie haben in mehreren Artikeln, aber auch in Form von Büchern sich sehr deutlich gegen die Verbrechen des Staates Israel gestellt. Jeder Nichtjude, der so klar die Dinge aussprechen würde, wie sie es getan haben, wäre sicherlich als Antisemit diffamiert worden. Ist Kritik an Israel nur Israelis vorbehalten?

Elam: Auf keinen Fall! Man muss aber auch sehen, dass Israelis oder Juden, die solche Kritik üben, nicht verschont werden. Da gibt es verschiedene Kategorien, beispielsweise „jüdischer Antisemit“, wie ich auch schon genannt wurde, „Selbsthasser“ oder „Nestbeschmutzer“ usw. Es ist also nicht so, dass man als Jude oder Israeli den Blankoscheck besitzt so zu kritisieren. Ich zahle auch einen sehr hohen Preis dafür. Aber dennoch: Eine solche Situation, in der am ehesten noch nur Juden diese Kritik ausüben können, ist sicher nicht normal. Ich habe vor drei Jahren, als die Kampagne gegen meinen Freund Jamal Karsli in Deutschland sehr stark war, versucht Leute für ihn zu mobilisieren und habe betont: Jamal Karsli hat nichts Anderes getan als einige, z.T. auch prominente Israelis, als er gewisse Praktiken der israelischen Armee mit Nazi-Methoden verglich. Dementsprechend darf es nicht sein, dass die einen Kritik üben dürfen und die anderen nicht.

MM: Sie selbst sind da aber immer viel deutlicher. Zum Beispiel vergleichen Sie die Verbrechen des Nazi-Regimes gegen Juden mit einigen der Verbrechen des heutigen Israels gegenüber Palästinensern. Sind sie denn schon mal wegen Volksverhetzung oder Verharmlosung des Holocausts angezeigt worden?

Elam: Nein, ist mir nicht bekannt. Jedoch beschrieb - wenn ich mich richtig erinnere - Guido Westerwelle einen Brief, den ich Jamal Karsli damals als Unterstützung geschickt hatte, als quasi Braunen Sumpf. In jenem Brief habe ich darauf hingewiesen, dass Vergleiche Israels mit NS-Deutschland absolut zulässig sind, natürlich mit verschiedenen Differenzierungen. Aber grundsätzlich bin ich der Ansicht, dass man solche Vergleiche machen darf, und sogar machen muss. Ich empfand es damals als hirnrissig, dass ein Herr Westerwelle mir eine Lektion in Geschichte erteilen wollte. Es sind einfach schlimme Prozesse, bei denen man nüchtern betrachtet sagen muss: Die Singularität der NS-Verbrechen darf nicht so ausgelegt werden, dass gewisse Mechanismen und Prinzipien nur in NS-Deutschland möglich waren. Einen Teil dieser Mechanismen findet man auch im heutigen Israel.

Viele seriöse Historiker sind sich heute darüber einig, dass sich die NS-Politik gegenüber Juden in drei verschiedene Phasen gliedert. Die erste Phase 1933-1938 kann man als „freiwillige Vertreibung“ bezeichnen. Die zweite von 1938 bis 1941 war eine Zwangsvertreibung und die dritte letztlich der Übergang zu einer systematischen Vernichtung. Und wenn wir die Situation im heutigen Israel betrachten, können wir feststellen, dass eine ähnliche Phase, wie die von 33-38 sich langsam dem Ende neigt. Die israelische Regierung versucht spätestens seit der zweiten Intifada 2000 die Vertreibung der Palästinenser zu forcieren, das kann man noch als eine Form der „freiwilligen Vertreibung“ bezeichnen. Jedoch sind die Maßnahmen gegen Palästinenser heute z.T. viel schärfer, als sie es in den 30er Jahren in Nazi-Deutschland gegen Juden waren. Aus meiner Sicht steht eine weitgehende Vertreibung, also eine Zwangsvertreibung, gerade vor der Tür. Diese Gefahr schwebt in der Luft und lässt sich nicht ausschließen. Ich halte es nicht für relevant, ob es dann letztlich zu einer systematischen Vernichtung kommt, oder nicht. Das Problem ist, dass viele Leute bei „Nazi-Deutschland“ sofort an Auschwitz denken, als ob nur Auschwitz zu den Nazi-Methoden gehört hätte. Und abgesehen davon; eine ethnische Säuberung muss nicht unbedingt nur durch Vergasung stattfinden, es gibt andere Methoden.

Ich habe es mehrfach in meinen Veröffentlichungen angedeutet und möchte eine Aussage dazu noch erläutern. Um zu demonstrieren, dass der Zionismus für die Juden selbst schädlich ist, nicht nur für die Palästinenser, was ja offensichtlich ist, möchte ich auf die Rolle der Jewish-Agency zur Nazizeit hinweisen. Da kommt man leicht zum Schluss, dass wenn es den Zionismus nicht gegeben hätte, man viel mehr Juden während der Nazizeit hätte retten können. Die Jewish-Agency-Führung, die wie eine Art vorstaatliche Regierung funktionierte, hat der Rettung von Juden eine sehr niedrige Priorität beigemessen. Höchste Priorität war die Bildung eines Staates in Palästina und alles andere war dem untergeordnet.

Die sehr wenigen Rettungsaktionen, die es gab, dienten nur dem Projekt des zionistischen Staates in Palästina und nicht umgekehrt. War dies nicht der Fall, so schreckte die Jewish-Agency-Führung nicht davor zurück, realistische Rettungsaktionen zu sabotieren und zum Teil gingen sie sogar so weit mit den Nazis zu kooperieren. Leider wird diese Realität von sehr vielen Juden nicht erkannt und auch die Juden in Deutschland träumen, Israel wäre für sie eine Art Lebensversicherung, falls es noch mal so käme, wie im dritten Reich, hätten sie einen Zufluchtsort. Sie setzen sich gar nicht damit auseinander, was der Zionismus im zweiten Weltkrieg gemacht hat. Was hat er zur Rettung der Juden getan, und was hat diese Bewegung auch nach dem Krieg für die überleben getan und wie werden die Überlebenden, an und für sich bis heute, in Israel misshandelt. Man hat sie missbraucht für propagandistische Zwecke. Das sagen heute viele Überlebende selbst, wenn sie ehrlich mit sich selbst sind; sie wurden regelrecht misshandelt.

MM: Sie gehen mit Ihrer Kritik auch weiter und kritisieren die Funktionäre des Zentralrats der Juden in Deutschland hinsichtlich ihrer Einstellung zu Israel. Ist das nicht eine äußerst komplizierte Situation zu verstehen, dass eine Person, die als Soldat auf der Seite Israels gekämpft hat, heute diejenigen kritisiert, die den Judenstaat versuchen zu verteidigen aber teilweise noch nie in Israel gelebt haben?

Elam: Gerade aus meiner eigenen Erfahrung im Krieg 1967 kenne ich israelische Verbrechen, die die Juden in Deutschland, wie die vom Zentralrat, aber nicht nur die, nicht wahrhaben wollen. Aber auch bei meinen schon rein berufsmäßigen Beobachtungen sehe ich in diesem Zusammenhang Kriegsverbrechen. Kriegsverbrechen sind einfach Kriegsverbrechen, und gleich ob sie vom eigenen Staat oder von einem anderen Staat ausgeübt werden, man darf dieses nicht verharmlosen. Und diejenigen, die versuchen dies zu verharmlosen und versuchen Kritik zu verhindern, machen sich mitschuldig. Das ist doch völlig klar, gleich ob sie jüdisch, muslimisch oder christlich sind, machen sie sich mitschuldig. Wenn man die Aktionen Israels neutral betrachtet, findet man wirklich zahlreiche Kriegsverbrechen. Aus meiner Sicht ist das, was sich gerade in Palästina ereignet  - der Zentralrat in Deutschland und verschiedene Exponenten dieser Organisation versuchen Kritik daran zu verhindern - eine schleichende und stille ethnische Säuberung.

Ich bin völlig überzeugt, obwohl keine offiziellen Zahlen bekannt sind, dass die Anzahl von Menschen, die seit Anfang der jüngsten Intifada durch die israelischen Maßnahmen gestorben sind, extrem hoch ist. Man muss sich einfach mal vorstellen, welche verschiedensten Auswirkungen dieses hat, etwa Probleme bei der medizinischen Versorgung oder der Versorgung mit Lebensmitteln, die in Folge der israelischen Belagerung entstanden sind – und dies geht jetzt schon seit Jahren so. Nur um dies einmal zu quantifizieren: Es gibt  zuverlässige Zahlen, die besagen, dass in den Jahren von 92-96, also in den „Oslo-Jahren“, in denen die ökonomische Situation bedeutend besser war, als die heutige Situation. In diesen Jahren sank die Lebenserwartung in den palästinensischen Autonomie-Gebieten um zwei Jahre. Jetzt muss man sich einfach mal versuchen vorzustellen, was entsprechend seit 2000 passiert ist.

Wenn man die Zahlen bekannt machen würde, würden sich viele wirklich wundern, sie würde in die Nähe der Definition des Völkermords kommen, wobei man natürlich einfügen muss, dass die Definition von Völkermord keinen direkten Bezug zu einer Zahl oder Ziffer von Opfern haben kann, sondern es geht um eine Absicht. Das ist der eine wichtige Aspekt, und der andere wichtige Aspekt der jetzigen schleichenden und eskalierenden ethnischen Säuberung ist die Anzahl der Palästinenser, die seit dem September 2000 ihre Häuser verlassen haben, welche ich auf mindestens 500.000 schätze und das ist noch eine sehr vorsichtige Einschätzung.

Es ist also eine wirklich schleichende Vertreibung, die wir miterleben, wobei es auch jeden Tag zu einer totalen Eskalation kommen könnte. Wenn, sagen wir einmal morgen, ein Anschlag mit über hunderten jüdischen Opfern passieren würde, dann ist es ganz klar, dass man mit einer gewaltigen israelischen Aktion bisher unbekannten Ausmaßen rechnen muss. Dies haben auch verschiedene israelische Minister deutlich gesagt; wenn so etwas wie, wie sie es nennen „Mega-Attentat“, passieren würde, dann müssen die Palästinenser mit einer zweiten Naqba rechnen. „Naqba“ nennen die Palästinenser ihre Katastrophe von 1948, als damals etwa 800.000 Menschen vertrieben wurden.

MM: Aber glauben Sie denn nicht, dass der aktuelle Rückzug zumindest einen kleinen Hoffnungsschimmer in sich birgt?

Elam: Das glaube ich nicht, auch wenn alles nach Plan laufen, und Israel die Siedlungen in Gaza ohne nennenswerten internen Widerstand räumen würde. Ich glaube die Absicht von Sharon und der Leute, die hinter diesem Rückzug stehen ist klar, sie sagen das auch selbst. Da muss man ein bisschen historisch zurückgreifen: Die Idee vom einseitigen Rückzug aus Gaza kommt ursprünglich aus der Arbeiterpartei und kam 1993 oder sogar 1992 schon sehr deutlich zur Sprache, also noch vor Oslo. Und sie sagten eindeutig: „Wir haben zwar keine palästinensischen Partner, aber wie werden die Palästinenser zu einer Situation zwingen, und wenn sie diese nicht akzeptieren, können wir anschließend nach so einem einseitigen Rückzug viel vehementer und viel brutaler angreifen. Und das war damals auch sehr deutlich zu hören, etwa in verschiedenen Zeitungsinterviews. Ich nenne nur einen Politiker, der das damals deutlich sagte, Herr Chaim Ramon, und er sagt dies heute genauso deutlich, da hat sich seine Position also nicht geändert. Auch einige Generäle sprechen dies so aus.

Man muss sich einfach darüber im Klaren sein, wenn es auch eine wirkungsvolle palästinensische militärische Aktion aus Gaza gibt, wird es zu einem sehr starken Angriff des israelischen Militärs kommen. Ich sehe nicht, wie diese Situation zu vermeiden wäre, denn einerseits will Israel, dass die palästinensische Behörde die eigenen Leute unterdrückt und militärische Aktionen gegen Israel und jüdische Ziele verhindert, aber auf der anderen Seite wollen sie ihnen nicht einmal Waffen geben. Außerdem hat die israelische Armee weitgehend die Infrastruktur der palästinensischen Polizeibehörde zerstört. Ich sehe da keine großen Möglichkeiten und Israel hat für dieses Angriffsszenario schon massiv Militäreinheiten um Gaza verdichtet.

Ich halte es für absolut ausgeschlossen, was sich natürlich viele außerhalb Israels wünschen, das sich nämlich irgendwie ein positiver Mechanismus aus diesem Rückzug für die Palästinenser entwickelt und dieses dann auch irgendwann in der Westbank wiederholt wird oder zumindest schätze ich eine solche positive Entwicklung als extrem unwahrscheinlich ein.

Hinzu kommt noch, dass sich die internen Konflikte in der israelischen Gesellschaft massiv zuspitzen werden. Die dortigen Rechtsradikalen sind sehr stark und sehr motiviert, haben ihre Anhängerschaft im so genannten Sicherheitssystem. Sie sind sehr gut bewaffnet und zum Teil gut ausgebildet und haben so verschiedene Optionen von Versuchen, den Rückzug aufzuhalten, welche vom israelischen Geheimdienst selbst beschrieben werden. Es handelt sich also nicht nur um meine eigene Einschätzung. Der Geheimdienst schätzt ein, dass diese Rechtsradikalen primär versuchen werden, palästinensischer Ziele anzugreifen, entweder eine Moschee, oder wie das Massaker vor zwei Wochen im Norden von Israel, was ein Vorgeschmack eines nicht richtig ausgebildeten Soldaten war. Nach dem israelischen Geheimdienst gibt es mindestens mehrere hundert derartige hoch motivierte Rechtsradikale, die zu solchen Aktionen absolut fähig sind. Auch bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den so genannten israelischen Sicherheitskräften und Rechtsradikalen sind nicht ausgeschlossen.

Im Moment ist es außerordentlich heiß, nicht nur politisch, sondern auch klimatisch, und die Leute in der israelischen Gesellschaft sind auch ansonsten sehr geladen und aggressiv, in dieser Situation können die Emotionen sehr schnell hochkommen. Ich rechne eigentlich damit, dass jeden Moment sich die Lage zuspitzen kann. Es gibt sogar einige Experten, die die Möglichkeit eines Putsches der Rechtsradikalen in Israel nicht ausschließen. Ich denke man hat da in Israel ein grundsätzliches strukturelles Problem mit den Rechtsradikalen. Normalerweise spricht man von Siedlern. Ich denke, das ist keine gute Beschreibung, zumal nicht alle der Siedler, die seit 1967 in diesen Gebieten wohnen, als politisch orientiert einzuordnen sind. Ein Teil von ihnen hat sich dort niedergelassen, weil es billiger war.

Ich betrachte eigentlich die ganze israelische Gesellschaft als eine Siedlergesellschaft, aber sagen wir mal in "Kern-Israel" gibt es dagegen sehr viele Leute, die diese rechtsradikalen und ultranationalistischen Tendenzen unterstützen. Diese große Gruppe ist auch extrem aktiv und die haben ihre Unterstützung innerhalb dieses Systems. Auch wenn diese recht düstere Prognose eines Bürgerkriegs mit totalem Chaos, in welches alle dortigen Bewohner verwickelt wären, sich in den nächsten Wochen nicht bewahrheitet, sehe ich nicht, wie dieser Konflikt zu entschärfen wäre, mittel- oder langfristig wird es zu einer solchen Eskalation kommen.

MM: Gut, aber wenn wir einmal versuchen hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen; Sie haben mehrfach in Ihren Schriften Israel das Existenzrecht in seiner heutigen Form abgesprochen und es mit dem Burenstaat in Südafrika verglichen, der ja auch in der alten Form nicht weiter existieren konnte. Können Sie sich denn ein friedliche Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen in einem gemeinsamen Staat dort vorstellen?

Elam: Ja, selbstverständlich. Es gab vor ca. zwei oder drei Jahren einen Artikel in einer israelischen Zeitung, in dem beschrieben wurde, wie in einer Gegend von New York in dem gleichen Viertel ultraorthodoxe Juden, die eigentlich die nationalistische Einstellung in Israel unterstützen und auf der anderen Seite sog. Islamisten, also Leute, die auch eine radikale Auffassung des Islams haben, die die Hamas-Bewegung unterstützen, zusammen wohnen und leben – und sie wohnen friedlich zusammen. Und sie sahen sogar gewisse Vorteile in dieser Koexistenz, weil beispielsweise es bei Bekleidungsvorschriften es auf keiner Seite etwas gab, was die andere Seite als anstößig empfunden hätte. Man kann zwar vielleicht nicht von einer freundschaftlichen Beziehung sprechen, aber auf jeden Fall von einer friedlichen Koexistenz. Diese Situation ist in Israel bzw. in Palästina momentan kaum vorstellbar. Analysieren wir diese Einzelsituation in New York, dann stellen wir fest: Die Leute sind vor dem Gesetz gleich, es gibt keine direkte Unterdrückung, nur dann kann man sagen, es sei möglich.

Oder man kann auch die Situation vor 1947 betrachten, da gab es viele Beispiele, die zeigten, dass friedlichen Zusammenleben möglich ist. Mein Vater arbeitete bei den Eisenbahnlinien unter den Briten und er arbeitet zusammen mit Leuten arabischer Abstammung, sie waren alle Arbeitskollegen und gleichgestellt. Ich will nicht beschönigen und sagen, alles wäre harmonisch gewesen, aber solch ein Zusammenleben ist offensichtlich durchaus möglich gewesen.

Heute gibt es natürlich große Hindernisse, auf der palästinensischen, wie auch auf der israelischen Seite, gibt es enorm viel Hass. Ich kann diese Einstellung sehr vieler Palästinenser auch nachvollziehen, da hat man schließlich über 57 Jahre extrem Schreckliches erlebt. Das kann man nicht von den Menschen verlangen, dass sie das so einfach vergessen.

Bildlich gesprochen ist die Situation in diesem Land, wie die Siamesischer Zwillinge; sie haben sich diese Situation nicht selbst ausgesucht, sie sind immer zusammen. Und es gibt bestimmte Siamesische Zwillinge, die man nicht trennen kann und dann sind sie verdammt, entweder zusammen zu leben oder zusammen zu sterben. Ich weiß, dass hört sich nicht sehr optimistisch an, denn ich sehe momentan nur eine düstere Zukunft, ich sehe keine Kräfte dort, die eine positive Änderung bringen können. Ich denke, ähnlich wie in Südafrika, muss eine gemeinsame Bewegung entstehen, in der alle dort lebenden Menschen jeder ethnischen Herkunft und jeder Religion sich zusammenschließen und gegen Rassismus kämpfen, nur dann gibt es eine Hoffnung. Im Moment jedoch sehe ich diese Konstellation nicht.

Auch sehe ich im israelischen Friedenslager große Ratlosigkeit und große Schwäche. Ebenso bei den Palästinensern gibt es diese große Ratlosigkeit; der bewaffnete Kampf hat ihnen mit den bisherigen Methoden nur geschadet, politisch nichts genützt. Und es gibt auch keinen Erfolg versprechenden gewaltlosen Kampf, dies ist eine wirklich schwierige Situation. Es gibt da schon einige Möglichkeiten, aber ich sehe auch keine Diskussion, die sich auf diesem Wege befindet. Die zerstörerischen Kräfte haben in diesem Konflikt die absolute Oberhand.

So ist es auch nicht verwunderlich, um noch einmal auf den inneren Konflikt der Israelis zurückzukommen, dass Leute wie Uri Avnery, der ja ein Zionist ist und bis jetzt den Vergleich mit Nazideutschland immer vermieden und abgelehnt hat, selbst schon die Situation in Israel mit der Situation in der Weimarer Republik verglichen haben, besonders angesichts der starken faschistischen und ultranationalistischen Tendenzen in der israelischen Gesellschaft, bei denen man nicht weiß, wie man sie bremsen sollte.

MM: Wenn Sie uns beschreiben, was Sie nicht sehen, dann fragen wir Sie doch in der abschließenden Frage: Was würden Sie denn gerne noch sehen in Ihrer Lebzeit?

Elam: Ich würde schon gerne sehen, wie alle Menschen dort in Frieden miteinander leben können, ohne Unterdrückung, sodass sämtliche palästinensische Flüchtlinge, die vertrieben worden sind, mindestens das Anrecht auf eine Rückkehr erhalten und vor Allem auch die Möglichkeit kompensiert und integriert zu werden, vielleicht genau in dem Stil, wie Juden von Deutschland kompensiert und wieder integriert worden sind. Ich denke, dass es theoretisch möglich ist. Jedoch bezweifele ich leider sehr stark, dass ich das erleben werde.

Muslim-Markt: Wir wünschen es uns allen und wir bedanken uns für dieses Interview Herr Shraga Elam.

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