Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Rüdiger Nehberg
 

Muslim-Markt interviewt 
Rüdiger Nehberg, Gründer der Menschenrechtsorganisation TARGET

1.12.2006

Rüdiger Nehberg (Jahrgang 1935) hat bereits als 15-jähriger Radtouren um die halbe Welt und mit 16 Jahren Erfahrungen mit arabischen Gefängnissen gemacht. Nach seiner Ausbildung war er 25 Jahre lang selbständiger Konditor, konnte das Reisen in eher ungewöhnliche Reiseziele aber nie lassen.

Seine Reiselust, kombiniert mit Abenteuerlust und Einsatz für Menschenrechte, führte u.a. zum Engagement für die Yanomami (seit 1980), einen 1000 km Gewaltmarsch ohne Nahrung von Hamburg nach Oberstdorf (1981), mit einem Tretboot über den Atlantik (1987), per Bambusfloß von Senegal über Brasilien, Karibik, zum Weißen Haus (1992), zum Bau einer Krankenstation im Yanomami-Land (1995) u.v.a.m. Im Jahr 2000 gründete er die Menschenrechtsorganisation TARGET und setzte sich zusammen mit Annette Weber gegen Weibliche Genitalverstümmelung ein; und zwar ausschließlich mit dem Islam als Partner. 2002 kam es zur 1. TARGET-Wüstenkonferenz in Äthiopien. Er erhielt er das Bundesverdienstkreuzes am Bande. Unter anderem für den "Dialog mit dem Islam". 2004 fand die 2. TARGET-Wüstenkonferenz in Djibouti statt und 2005 die 3. TARGET-Wüstenkonferenz in Mauretanien. Der inzwischen 71-jährige ist ledig und lebt - wenn er einmal zuhause ist - in Rausdorf bei Hamburg.

MM: Sehr geehrter Herr Nehberg, es ist sicherlich als ungewöhnlich zu bezeichnen, dass sich ein deutscher Abenteurer gegen die Genitalverstümmelung von Frauen in Nordafrika einsetzt. Wie kam es zu diesem Engagement?

Nehberg: Ich habe das Buch "Wüstenblume" gelesen und war zutiefst von der menschenverachtenden Praxis geschockt. Als ich las, dass der Brauch unrichtig mit dem Koran begründet wurde (von Christen ebenso unrichtig mit der Bibel), kam mir spontan die Idee, gemeinsam mit dem Islam klarzustellen: Der Islam lässt sich ein solches kapitales Verbrechen nicht in die Schuhe schieben. Für mich war es gleichzeitig die Chance, eine altes Dankesschuld beim Islam zu begleichen. Vor langer Zeit haben mir zweimal muslimische Gastgeber bei Überfällen mit ihren Körpern als lebende Schilde das Leben gerettet.

MM: Schon früh haben Sie erkannt, dass das Thema in Kooperation mit Muslimen am besten lösbar ist, so dass Sie die Pro-Islamische Allianz gegen Weibliche Genitalverstümmelung (PIA) gründeten. Wir waren die Reaktionen von muslimischer Seite darauf?

Nehberg: Wie ich erhofft hatte: ausschließlich positiv. Wir haben nur Partner, Brüder und Freunde gefunden. Keinen einzigen Gegner. Das macht mich besonders stolz und glücklich. Das ist der Islam, wie ich ihn schon als junger Mensch kennen gelernt habe, und wie ich ihn wider den "westlichen" Zeitgeist der Welt präsentieren möchte.

MM: Gab es auch muslimische Geistliche, die sich gegen Ihren Einsatz gewehrt haben?

Nehberg: Nie. Stattdessen haben sie mich beraten und die Aktionen mit uns gemeinsam durchgeführt. Zum Beispiel die Wüstenkonferenzen, auf denen der Brauch schließlich zur Sünde erklärt wurde. Oder mit der beispiellosen "Karawane der Hoffnung" durch Mauretanien. Sie sollte auf Fahnen die neue Botschaft des Großmufti zu den Nomaden tragen.

MM: Wie muss man sich die praktische Arbeit vor Ort vorstellen, konnten Sie schon Genitalverstümmelungen verhindern?

Nehberg: Ja, in den Ländern Äthiopien und Djibuti beim Volk der Afar. Und in Mauretanien. Natürlich setzt sich die neue Erkenntnis - trotz Stammes- oder Religionsbeschluss - nicht sofort bei allen durch. Hier sind Nachhaltigkeit gefordert und klare Worte der obersten Religionsführer, wie sie jetzt in Kairo gesprochen wurden. Da waren die höchtgeachteten Männer des Islam zusammen gekommen! Koryphäen wie der Großmufti Ägyptens, Prof. Ali Goma'a, unser Schirmherr; da war der Großscheich der Azhar, Prof. Tantawi; da war der ägyptische Religionsminister Prof. Zakzouk, und da war "das lebende Islam-Lexikon", Scheich Yusuf Qaradawi, um nur einige zu nennen. Dass diese und andere Autoritäten uns Fremden (Annette und mir) vertrauen, liegt vielleicht daran, dass wir mit hohem Respekt, in Demut und als 'Freunde aus Überzeugung' kommen. Ich persönlich glaube, wie jeder Moslem, an nur einen einzigen und einzigartigen gigantischen Schöpfer des Weltalls und glaube, dass Mohammed und Jesus Propheten waren, aber Menschen und keine Gottessöhne. Gottes Söhne und Töchter sind wir alle.

Das Vertrauen unserer muslimischen Partner, das wir erleben, sehen wir als die größte Gnade, die wir je erfahren haben. Wir empfinden dieses Geschenk des Vertrauens aber auch als eine Verpflichtung und werden es in die größte Sympathie-Kundgebung verwandeln, die es für den Islam je gegeben hat! Der Beschluss von Kairo ist dafür die Voraussetzung gewesen. Er ist von historischer Dimension und ohne Beispiel in der gesamten Weltreligionsgeschichte.

Wir möchten den Beschluss jetzt mehrere Millionen mal in Form eines kleinen Büchleins und auf DVD herausgeben. In Arabisch, Französisch und in Comic für die Analphabeten. Diese Exemplare werden wir an alle Moscheen der Sahara verteilen. Ein Gesandter der Azhar wird uns begleiten, wenn wir die Bücher, inscha'Allah, im nächsten Jahr in den Hauptstädten bei den jeweiligen Religionsführern zur Verteilung abgeben.

Wenn das gelingt, und mit Allahs Hilfe wird es gelingen, könnte der schlimmste "Krieg" beendet werden, den es je gegeben hat: der 5000-jährige Krieg gegen die eigenen Frauen! Der Krieg, den in vor-islamischer Zeit irgendwelche Geisteskranken begonnen haben. Der schlimmste Krieg aller Zeiten, ein "Krieg", der täglich 8000 Opfer fordert, zumeist muslimische Opfer, von denen viele sterben und die übrigen ihres Gefühlszentrums, ihrer Ehre, Würde und Seele beraubt wurden und werden. Wenn uns das gelingt, hat unser Schirmherr Prof. Dr. Ali Goma'a den größten Friedensnobelpreis verdient, der je vergeben wurde. Dieser Mann und die anderen Delegierten, die uns vertraut und den Beschluss mitgetragen haben, sind für mich Männer, vor denen ich mich tief und in Dankbarkeit verneige.

MM: Ihr Lebenslaus wirkt etwas "rastlos". Findet man denn nicht mit über 70 Jahren eine gewisse "Beruhigung"?

Nehberg: Ja, wenn das letzte Buch verteilt ist und wenn ich mit allen Muslimen diesen epochalen Moment feiern darf. Ich fürchte jedoch, dass ich diesen Moment vor lauter Freude nicht überleben werde. Dann muss Muslim-Markt weiterkämpfen. Danke im voraus!

MM: Vielen Dank für das Vertrauen, aber solch eine Verantwortung ist extrem groß. Aber Sie haben ja eine Kampfgefährtin namens Annette Weber, welche Aufgaben übernimmt sie?

Nehberg: Sie ist mehr als 50% der "Firma" TARGET. Sie arbeitet 35 Stunden pro Tag. Sie hat den Zugang zu den muslimischen Frauen, ich zu den Männern. Ohne Annette wären wir noch nicht dort, wo wir nun sind.

MM: Sie sprachen von einer Lebensrettung durch Muslime. In Ihrer Biographie ist zudem ein Gefängnisaufenthalt in jungen Jahren in der muslimischen Welt verzeichnet. Beides wird die Neugier unserer Leser wecken. Wie kam es zu diesen beiden Ereignissen?

Nehberg: 1960 habe ich in Akaba (Jordanien) unbefugt ein Boot benutzt. Damit wollte ich nach Bir Taba (Sinai) rudern. Damals war die Grenze am Roten Meer geschlossen, und ich wollte unbedingt ums Mittelmeer trampen, wandern, rudern. Auf jeden Fall wollte ich am Roten Meer nicht umkehren. Ich hatte aber einen Mann mit, der das Boot zurückgebracht hätte. Deshalb erhielt ich statt einem Jahr Gefängnis für Diebstahl nur zwei Monate (Buch: "Im Mit dem Baumstamm über den Atlantik").

Die genannten Überfälle geschahen 1977 während meiner 4-monatigen Durchquerung der Danakilwüste (Äthiopien) . Dort herrschte Bürgerkrieg. Wir waren zu Fuß und unbewaffnet unterwegs.

MM: Wollen Sie nicht einmal ein Buch über Ihre so positiven Erfahrungen mit Muslimen und die Erfolge im Kampf gegen die Genitalverstümmelung bei Frauen schreiben, ein 71-Jähriger muss doch auch einmal sitzen bleiben können?

Nehberg: Das Buch ist letzte Woche erschienen. Es heißt "Karawane der Hoffnung - Mit dem Islam gegen das Schreien und Schweigen" . In der zweiten Auflage erscheint das Ergebnis der Azhar-Konferenz.

Übrigens traf ich die ersten Muslime und deren überwältigende Gastfreundschaft als junger Mann in der Türkei. Da stritten sich Autofahrer, wer mich als Tramper befördern, wer den Tee bezahlen dürfte, und Kinder schenkten mir ihr Eis, obwohl sie es gern selbst gegessen hätten. Eine vergleichbare Ethik ist mir in keiner anderen Kultur begegnet. Tesekür ederim! (Anm.: Dankeschön auf Türkisch)

MM: Herr Nehberg, wir danken für das Interview und wünschen weiterhin viel Erfolg für TARGET.

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