Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Prof. Poirier
 

Muslim-Markt interviewt 
Prof. Jean-François Poirier, ehemaliger Professor für deutsche Philosophie in Tunesien

5.7.2006

Jean-François Poirier ist 1951 in einer Vorstadt von Paris geboren. Er studierte Germanistik und Romanistik und besuchte die Vorlesungen von Foucault und Deleuze. Zunächst unterrichtete er Französisch in Frankreich und Deutschland und widmete sich früh der Übersetzung, zuerst von Theaterstücken, dann hauptsächlich von philosophischen Texten. Dazu verfasste er zahlreiche Artikel über Literatur, Kunst und Philosophie, sowie literarische Aufsätze. Seit einer Reise nach Tunesien (1979) erwachte sein zunehmendes Interesse für die islamische Welt.

Er wurde Professor für deutsche Philosophie am "Institut supérieur des sciences humaines de Tunis". Im Jahr 2000 erfolgte die Ausweisung aus Tunesien aufgrund der Kontakte mit Verteidigern der Menschenrechte im Land. Seither hat er sich beständig gegen den immer fortwährenden Kolonialismus engagiert. Im Dezember 2000, kurz nach dem Anfang der zweiten Intifada, bereiste er  zusammen mit Ärzten Palästina und seit den schrecklichen Erfahrungen der Reise beteiligt er sich immer wieder an Aktionen zur Überwindung des rassischtischen Staates Israel.

Prof. Poirier lebt heute in Frankreich.

MM: Sehr geehrter Herr Prof. Poirier. Wie kommt ein Franzose dazu ausgerechnet deutsche Philosophie in Tunesien zu lehren?

Prof. Poirier: Als ich mich entschloss, in Tunesien die deutsche Philosophie zu unterrichten, erschien die Situation des Abendlands mir seit bereits einigen Jahren derart: Es gab chronologisch zuerst einen geistlichen bzw. spirituellen Zusammenbruch, dann einen moralischen Zusammenbruch - Ende der Solidaritäten, zwischen jungen Leuten und Erwachsenen, alten Leuten und Jüngeren, zwischen Armen und Reichen, Gesunden und Kranken - und letztendlich auch einen intellektuellen Zusammenbruch. Und Mitte der neunziger Jahre ist mir der Gedanke gekommen, dass es viel interessanter sein würde, in armen Ländern zu unterrichten, wo die Studenten noch nicht gesättigt sind, noch einen großen Appetit auf Wissen und Lektüre haben, mehr als bei uns "den Westlichen", wo alles als Spiel degradiert wird. Hier gibt es unheimlich viele Bücher - obwohl es immer weniger gute Bücher gibt - die weder gekauft noch gelesen werden, dort eine große Leselust, aber viel zu teure Bücher und keine anständige Bibliotheken. Ich war mit meiner kleinen Arbeitsbibliothek gekommen, und die Studenten haben meine Bücher fotokopiert, obwohl ich ganz genau wusste, dass es dem Verlagswesen schadet. "Le photocopillage tue le livre" sagte zurecht ein französischer Verleger. Das ist ein Wortspiel über "photocopiage" (Fotokopieren) und "pillage" (Plünderung).

Warum deutsche Philosophie? Philosophie scheint mir immer das beste Fach, um sich zu bemühen zu denken vergleichbar dem Idschtihad im Islam. Philosophie steht für mich überhaupt nicht im Konflikt zur Religion. Und die deutsche Philosophie ist die europäische Philosophie, die am meisten das Thema Modernität bearbeitet hat, und auch die Gefahren der Modernität erblickt hat. Und es ist nicht ein Zufall, dass es hauptsächlich Philosophen jüdischer Abstammung waren, wie Georg Simmel, Georg Lukacs, Ernst Bloch, Walter Benjamin, um einige Namen zu zitieren, die meine Lieblingsphilosophen sind, und die ich immer wieder übersetzt habe und versucht habe, durch Vorträge und Artikel in Frankreich bekannt werden zu lassen. Sie alle haben sehr gut verstanden, dass die Modernität sich gegenüber dem Geistes- und Kulturleben feindlich verhält, und dass die größte Gefahr darin besteht, dass der Geist erniedrigt und Kultur zur Ware herabgewürdigt wird, weil dann die Barbarei an ihre Stelle tritt.

Was ich auch sehr schnell in Tunesien verstanden habe, ist, dass ich mich nicht nur in einer ehemaligen Kolonie Frankreichs befand, sondern auch in einer aktuellen Kolonie, in der Frankreich nicht mehr als die einzige Kolonialmacht seine Herrschaft ausübt, sondern im Fall Tunesiens seinen Einfluss mit den USA, Israel und der italienischen Mafia teilen muss. Die lokale Macht besteht aus "Wachhunden", wie manche sie nennen, die für ihre Bevollmächtigten arbeiten. Da es Konkurrenz zwischen den verschiedenen Bevollmächtigen gibt, wurde Frankreich damals, als ich da war, unter Druck gesetzt wegen der Veröffentlichung eines Buches von zwei Journalisten namens N. Beau et J.-P. Tuquoi : "Notre ami Ben Ali". Dieser Zusammenhang erklärt zum großen Teil, dass ich sehr schnell aus Tunesien ohne die geringste Erklärung ausgewiesen wurde. Die Behörden haben sogar behauptet, ich hätte das Land freiwillig verlassen.

MM: Nun hat ihr Engagement in Tunesien für Menschenrechte dazu geführt, dass Sie ausgewiesen wurden. Das Ereignis hat aber nicht Ihre Abneigung gegenüber dem Islam bestärkt sondern im Gegenteil ihr Interesse und ihre Sympathie. Wie ist das zu verstehen?

Prof. Poirier: Das herrschende System in Tunesien zeigt, obwohl es in der Verfassung steht, dass der Islam die Religion des Landes sei, größte Abneigung gegen den Islam. Seit 1992 sitzen viele Leute, die Mitglied der islamischen Partei "Nahda" waren, im Gefängnisse unter unmenschlichen Bedingungen. Die Moscheen sind außer der Zeit der Gebete geschlossen, damit die Moslem sich nicht treffen können. Wenn der tunesische Staat einen Gott hat, dann ist es das Geld, und wenn sie ein Ritual haben, dann die Vetternwirtschaft. Die Politiker sind Heuchler, sie tun so als ob sie Moslem wären, aber in der Wirklichkeit haben sie mit dem Islam nichts zu tun. Sie fragen mich, wie trotz meiner Erfahrung in Tunesien mein Interesse an Islam immer größer wurde, ich würde sagen, gerade deswegen habe ich Islam als die einzige Macht erkannt, die so einem Volk die Standhaftigkeit geben konnte, nach Gerechtigkeit zu verlangen.

MM: Wie kam es zu ihrer Reise nach Palästina und was haben sie dort erlebt?

Prof. Poirier: Ende des Jahres 2000 hat man mir vorgeschlagen eine Dienstreise mit dem berühmten Krebsarzt Léon Schwartzenberg zu unternehmen, der mir als Mitglied einer Vereinigung für die Unterstützung der politisch Verfolgten in Tunesien geholfen hatte, als ich aus Tunesien ausgewiesen wurde. Professor Léon Schwartzenberg wurde damals schon als schlechter Jude diffamiert wegen seiner Unterstützung für das palästinensischen Volk. Eine israelische Sängerin und zugleich Offizieren des Tzahal (israelische Armee) hatte sogar die Unverschämtheit gehabt, ihn in einem konfessionellen Sender mit dem Konzentrationslagerarzt Mengele, der Experimente mit Gefangenen ausübte, zu vergleichen, obwohl seine beiden Brüder durch die Gestapo zu Tod gefoltert wurden, und obwohl er selbst 1941, mit 17, sich dem französischen Widerstand anschloss.

Was wir da gesehen haben, war kaum zu glauben. In einem Krankenhaus neben dem Flüchtlingslager Chan Yunis sahen wie gegen Mittag, als die Schüler die Schule verließen, einen Krankenwagen nach dem anderen, mit heulender Sirene, die die Kinder brachten, auf welche israelische Soldaten geschossen hatten. Der beindruckvollste Moment dieser Reise war, wie es Léon Schwartzenberg und ich erst nachträglich festgestellt hatten, ein Besuch des Friedhofs von Ramallah, obwohl er nur eine symbolische Bedeutung hatte, oder vielleicht gerade deswegen: Der Bereich des Friedhofs, in dem die Intifadisten begraben sind, die dort Märtyrer genannt werden, ist Zielscheibe der Schüsse von Siedlern, die von der Höhe eines Hügel schießen - die Siedlungen lassen sich immer auf den Höhen nieder, um Kontrolle über die Ebene zu haben. Jede Nacht schießen sie auf die Gräber der Kämpfer oder allgemein der Opfern und sie hatten sogar Märtyrergräber durch ihre Geschosse zerstört. Der Professor meinte, solche Taten seien nicht ein Fall für die Politik sondern für die Psychiatrie.

MM: In Deutschland wird nahezu jeder, der sich gegen Israel wendet, als "Antisemit" stigmatisiert und diskriminiert, ist die Lage in Frankreich ähnlich?

Prof. Poirier: Wenn Juden die gegen die Nazis gekämpft haben oder ein weltbekannter Soziologe jüdischer Abstammung wie Edgar Morin, der auch der "Résistance" während des Krieges angehörte, als Antisemiten oder kranke sich selbst hassende Juden diffamiert werden, oder sogar von einem "französischem" Gericht verurteilt werden, weil sie Kritik gegen den Staat Israel erhoben haben, wie es jüngst der Fall war für Edgar Morin, dann können Sie sich leicht vorstellen, wie es den Nichtjuden ergeht. Léon Schwartzenberg, der nicht selten einen militärischen Ton auflegte, den er von seiner Erfahrung im französischen Widerstand geerbt hatte, sagte üblicherweise, wenn man ihn mit solche Angriffen konfrontierte, das berühmte Zitat aus dem Goetz von Berlichingen. Er hatte mir geraten, falls es mir auch passierte, dasselbe zu tun. Ich habe dann immer seinem Ratschlag befolgt.

MM: Wie sieht ihr heutiges Engagement gegen die Unterdrückung der Palästinenser aus?

Prof. Poirier:

Um Ihre Frage richtig zu beantworten, soll man sich an den zweiten Krieg gegen den Irak erinnern. Dieser Krieg wurde von unserem Staatspräsidenten nicht unterstützt und der Krieg war in Frankreich sehr unpopulär. Eine Antikriegsbewegung fing an, sich zu organisieren, und sie fand einigen Zuspruch bei vielen Franzosen. Diese Bewegung wurde Opfer einer heimtückischen und systematischen Sabotage. "Antizionistische" Organisationen haben die Bewegung von Innen zerstört. Man sollte hier erwähnen, dass der Sinn der Begriffe sich in der letzter Zeit verändert hat. Der mutige Verleger Eric Hazan, der den Verlag "La Fabrique" leitet, hat von Amira Hass "Boire la mer à Gaza", von Norman Finkelstein "L'Industrie de l'holocauste", von Tanya Reinhart, "Détruire la Palestine ou comment terminer la guerre de 1948" und "L’héritage de Sharon - Détruire la Palestine, suite" veröffentlicht. Der Verleger hat auch selbst als Autor ein Buch geschrieben, das die genannte heutige Verdrehung der Sprache behandelt : "LQR", Abkürzung von "Lingua Quintae Republicae", eine Hommage für das Buch von Victor Klemperer, LTI, Lingua Tertii Imperii (von 1947), das zeigte, wie die Nazis die deutsche Sprache verzerrt hatten. In Frankreich kann man Zionist, und sogar fanatischer Zionist sein und Saint-Germain-des-Prés nur verlassen, um sein Riad in Marrakesch zu besuchen, und man kann auch Antizionist sein und die besten Beziehungen zum Staat Israel haben und Pressekonferenzen in dem Salon des Hotels "Colony" in Jerusalem geben. Infiltrierte Elemente haben eine Kampagne von Denunziationen eingeleitet: Der da, ist er nicht zufällig Antisemit und nicht nur Antizionist? In einem solchen Verdachtklima ist zum Beispiel "Europalestine" zugrunde gegangen und die Liste, die sie in den letzten Wahlen für das Europarlament aufgestellt hatte, ist wegen dieser tüchtigen Sabotage ohne den Erfolg geblieben, den man hätte erwarten können. Die Demonstrationen wurden mit "antisemitischen Zwischenfällen" befleckt. Die von manchen als "zionistischen Milizen" bezeichneten, "Betar" und "Ligue de Défense Juive", in meinen Augen eher gewalttätige, nicht verbotene Gruppen, haben dabei auch eine provokatorische Rolle gespielt.

Ich glaube Deutschland hat diese Milizen nicht nötig, der "Teutsche Michel" hat sogar seine eigene zionistische Miliz im eigenen Kopf. Am 4. Juni 2006 wurde eine Demonstration zu einem Meeting gegen Israel von der Polizei eingeschränkt und schließlich verboten. Da wie nicht gehen wollten, wurden wir wie Rowdies gefilzt und zum Polizeirevier geschleppt. Die antizionistischen Organisationen, die genehmigte Demonstrationen organisieren, sind nicht mehr glaubwürdig und versammeln nur wenige Leute, die antirassistischen Organisationen auch nicht. Ein Innenminister kann nach den Novemberunruhen sagen, dass die Schwarzen noch böser seien als die Araber, Proteste werden nur geflüstert. Wir, echte Antizionisten, können nur weiter versuchen das Recht zu bewahren, auf der Straße zu protestieren, den Boykott der Waren, der Universitäten von Israel usw. zu organisieren. Dabei versuchen die Zionisten den Eindruck zu erwecken, als ob ein solcher Boykott etwas ähnliches wäre, wie ein Boykott der Juden in der Nazizeit. Die deutschen Juden hätten aber damals ihren natürlichen Platz in Deutschland erhalten müssen, der ihnen verweigert wurde. Die jüdischen Siedler aus der ganzen Welt aber haben überhaupt nicht ihren Platz in Palästina. Und das wichtigste ist vielleicht zudem, die gesamte zionistische Ideologie abzubauen, die Ursache des Konfliktes ist.

MM: Der Konflikt im Nahen Osten war lange Zeit regional begrenzt. Seit dem 11. September 2001 besteht die Gefahr eines weltweiten Flächenbrandes? Wie wird die französische Gesellschaft mit dem künstlich forcierten "Clash of Cultures" fertig, schließlich haben Sie eine wachsende Zahl von Muslimen im eigenen Land?

Prof. Poirier: Der Ausdruck "Clash of Cultures" klingt bei uns besonders ironisch und hinterlässt bei uns einen bitteren Geschmack im Mund, da wir überhaupt keine Kultur mehr haben, weder im Sinn der Bildung - das Niveau des Fernsehens, des Radios, der Künste, der Literatur, der Studien sind im solchen Umfang gesunken, dass man sagen kann, es wird bei uns auf milde Art und Weise das gemacht, was man mit schrecklichen gewaltigen Mitteln im Irak gemacht hat: Die große Bibliothek von Bagdad und das Museum wurden zerbombt. Viele Schullehrer wurden ermordet, jetzt werden viele Wissenschaftler und Universitätsprofessoren systematisch verfolgt, manche behaupten, der Mossad stecke dahinter.

Die Gefahr kommt nicht von der Verschiedenheit der Kulturen sondern von der Beherrschung des sozialen Lebens durch eine einzige Nicht-Kultur oder Antikultur. Ich glaube, dass nur die Religion eine Wiederauferstehung der Kulturen veranlassen kann. Bei den jungen Nordafrikanern, die in Frankreich leben, merkt man schon, wenn sie aus einer frommen Familie stammen. Ein Freund von mir, jüdischer Abstammung, sagte mir dass, obwohl er sich als Atheist bekennt, er zugeben muss, dass unter den Kindern seiner Familie, die einzigen, die gut erzogen sind, religiöse Eltern haben. Viele junge muslimische Freunde von mir erwidern der berühmten Parole der Anarchisten "Weder Gott noch Herr": "Gerade weil ich ein Gott habe, habe ich keinen anderen Herrn." Nur freie Menschen können eine Kultur haben, und wirklich frei kann man nur sein, wenn man Gott verinnerlicht hat.

MM: In Frankreich gibt es ein striktes Kopftuchverbot für Schülerinnen. Gibt es überhaupt keinen Widerstand gegen die Benachteiligung von Muslimas oder hören wir nur nicht davon?

Prof. Poirier: Die meisten Schülerinnen, die das Kopftuchverbot nicht akzeptieren, schreiben sich in dem CNED ein (eine Art Fernschule über das Internet). Es ist eine unbestrittene Tatsache, dass man mit einem Kopftuch weder in die Schule noch zu den meisten Arbeitsstellen gehen kann. Die Tochter von einem Mitglied des "Conseil des imâms de France", auch Mitbegründer des "Comité Cheikh Yassine", dessen Mitglied ich bin, führt ihr Studium dieser Art durch. Und das Niveau des Unterrichtes ist hoch, wie ich es festgestellt habe, so dass die Hoffnung besteht, dass unsere islamischen Schülerinnen zu der zukünftigen Elite Frankreichs gehören werden. Ich habe mit ihr manchmal über ihre Klausuren gesprochen aber auch über die ganze Affäre des Kopftuches. Wir konnten nur staunen und darüber lachen, dass Mädchen sich fast nackt zur Schule begeben dürfen, auch mit grünem Haar durch Gel verunstaltet, mit diversen Metallstücken in verschiedenen weichen Teilen des Körpers, ohne mit der Wimper zu zucken, und dass plötzlich ein Kopftuch, ganz ähnlich dem Kopftuch, das meine Mutter trug, als sie in die Kirche ging, zum Gegenstand eines riesigen Skandals wird. Als ich Kind war, sagte eine sehr alte Nachbarin meiner Großmutter ihrem Dienstmädchen : "Falls es klingelt, wenn es "une femme en cheveu" ist (das heißt ohne Kopfbedeckung), dann machen Sie die Tür nicht auf." Es war in der Nähe von Paris vor fünfzig Jahren.

MM: Welche Zukunftsvision haben Sie für Frankreich und Europa für das Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen?

Prof. Poirier: Ich möchte Ihre Frage geschichtlich beantworten, obwohl ich kein Historiker bin. In dem Fall bin ich "doctus cum libro" (belehrt aber nur mit dem Buch in der Hand). Zwei wichtige Bücher sind in Frankreich 2004 und 2006 erschienen. Eines von einem Engländer, Jack Goody, Mitglied des St. John's College in Cambridge, Honorarprofessor für soziale Anthropologie in der Universität von Cambridge, "L'islam en Europe, histoire, échanges conflits" bei den "éditions la découverte" (Islam in Europe, Polity, 2004), das zweite von einem Amerikaner, William Bulliet, Professor in der Universität Columbia, "La Civilisation islamo-chrétienne, son passé, son avenir" bei Flammarion (The case for Islamo-Christian-Civilization", 2004 by Columbia University Press). Es gibt, soweit ich es weiß, keine Übersetzung ins Deutsche, was wirklich schade ist. Jack Goody behauptet energisch in seinem mit Schwung geschriebenen Essay, dass man zuerst erkennen sollte, dass Moslem sich nicht erst neulich in Europa niedergelassen haben, und dass sie schon immer da waren, er meint seit dem Anfang des Islams. Die drei "großen Wege", die Moslems gegangen sind, sind erstens derjenige Weg der Araber, der vom Maghreb ausging und der durch Spanien lief und bis zur nördlicher Seite des Mittelmeeres reichte. Die zweite Strasse brachte die Türken durch Griechenland in den Balkan. Und die dritte Strasse hat die Regionen des südlichen Russlands, in der die Mongolen wohnten, und Polen und Litauen verbunden. Und jedes Mal hat der Islam die Kultur der entsprechenden Länder tief geprägt. Das Buch von Richard B. Bulliet geht in die selbe Richtung, die schon ein anderer Amerikaner gebahnt hatte: Marshall G. S. Hodgson in seinem Buch (nach seinem frühen Tod zusammengestellt) "Rethinking World History: Essays on Europe, Islam and World History (Studies in Comparative World History)" (1977). Ich sehe im Internet, dass von diesem Haupt- und Meisterwerk keine Übersetzung ins Deutsche angefertigt wurde, was ich unheimlich schade in einem Lande finde, in dem es so viele vortreffliche Orientalisten einstmals gab - im gutem Sinn des Wortes, ja das Wort hat auch einen guten Sinn, ich bereite mit einem Freund ein kleines Essay darüber vor - Islamologen, Sprachwissenschaftler, Archäologen. Heutzutage müssen sich die armen deutschen Leser mit den traurigen Texten von so genannten Orientalisten begnügen, die ich teilweise als Islamhetzer bezeichnen würde. Die These von Hodgson und von Bulliet widerspricht ganz der klassische These des belgischen Historikers Henri Pirenne, Verfasser des klassischen Standartwerks "Mahomet et Charlemagne" (1935), dieses Buch ist übersetzt worden, "Mahomet und Karl der Grosse" von Henri Pirenne (Paul Egon Hübinger Fischer Bücherei 1963) und die interessieren Leser können es sogar günstig erwerben, wie ich es im Internet gesehen hbe. Pirenne meinte, der Islam wäre schuld an der Trennung zwischen Orient und Okzident. Im Gegenteil zeigen sowohl Hodgson wie Bulliet, dass überall wo der Islam als Religion angenommen wurde, die anderen Religionen beziehungsweise Kulturen intakt blieben, was man bei dem Mosaik von Kulturen und Religionen im fernen Asien exemplarisch bemerken kann, bis der westliche Imperialismus künstliche Trennungen zwischen den "ethnischen" Gruppen schuf, um besser seine Herrschaft aufzudrücken. Bulliet betont nachdrücklich, dass die Legende eines militärischen Islam, der die Bevölkerungen "mit Schwert und Degen" zum Islam bezwingt, wirklich nur eine Legende ist. Fast überall, wo ein islamischer Chef versucht hat, Völker durch Gewalt zu bekehren, ist er gescheitert. Dabei erwähnt er im Gegensatz die Rolle der friedlichen Bruderschaften der Mystiker, die, weil sie ein vorbildliches, bescheidenes und hochspirituelles Leben führten, sehr viele Leute dazu gebracht haben, den Islam als Religion anzunehmen.

Es geht heute auch gar nicht anders: In den Ländern, in denen die Regierungen sich weder um die Versorgung der Bevölkerungen noch um das Schul- oder Gesundheitswesen kümmern, werden diese Aufgaben von den moslemischen Organisationen übernommen. In diesen Büchern erfährt man mehr als in tausend Jahren TV-Programmen. Man lernt, dass das Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen einst in der Vergangenheit möglich war. Wenn es einmal möglich war, dann sollte es auch in der Zukunft möglich sein.

MM: Prof. Poirier, wir danken für das Interview.

 

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