Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Klaus v. Raussendorff
 

Muslim-Markt interviewt
Klaus von Raussendorff, ehemaliger BRD-Diplomat und DDR-Geheimdienstoffizier, Herausgeber der Antiimperialistischen Korrespondenz

13.8.2007

Klaus von Raussendorff (Jahrgang 1936) wurde als Sohn eines bei Krupp in Essen beschäftigten Prokuristen geboren und wuchs in bürgerlichen Verhältnissen auf. Er studierte an den Universitäten Hamburg, Berlin (West) und Bonn Theaterwissenschaft, Germanistik und Geschichte. Bei dem Versuch, von Westberlin aus in die DDR überzusiedeln, erhielt er Kontakt zu Mitarbeitern des Auslandsnachrichtendienstes des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Er verpflichtete sich, für den DDR-Geheimdienst tätig zu werden.

Am 4. April 1961 trat er in den Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland ein. Als Diplomat der BRD arbeitete er in Libanon, Sierra Leone und Indonesien, sowie an der Ständigen Vertretung bei der OECD. In der Zentrale Amt erfüllte er Aufgaben im Pressereferat, Europareferat und der Personalabteilung. Zuletzt war er stellvertretender Leiter der Ständigen Vertretung der BRD bei der UNESCO in Paris. Nach seiner Enttarnung wurde er am 9. April 1990 verhaftet. 1991 wurde er vom OLG Düsseldorf wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zu einer Haftstrafe von sechs Jahren verurteilt. Ab 1993 war er im offenen Vollzug der Haftanstalt Wittlich am Lehrstuhl des Soziologen Prof. Dr. Dr. Bernd Hamm an der Universität Trier tätig. Nach seiner vorzeitigen Haftentlassung 1994 setzte er diese Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Europäische Studien bis zur Rente 1999 fort. Seither arbeitet er ehrenamtlich als Übersetzer und freier Journalist. Von 1995 bis 98 war er Koordinator der "Initiativgruppe Kundschafter des Friedens fordern Recht", deren Tätigkeit in der Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung e. V. (GRH) fortgeführt wird. Seit 1998 ist er Herausgeber der Antiimperialistischen Korrespondenz. Im März 2001 beteiligte er sich an der Gründung des Internationalen Komitees für die Verteidigung von Slobodan Milosevic (ICDSM). Im Oktober 2003 organisierte er in Berlin in Unterstützung des Internationalen Komitees für den Schutz des Palästinensischen Volkes die Internationale Konferenz "Die Palästinensischen Politischen Gefangenen unter israelischer Besatzung". Im März 2005 beteiligte er sich an der Organisation der Internationalen Irak-Konferenz "Besatzung - Widerstand - Internationale Solidarität" in Berlin. Er ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbands, in dem er die Aufgaben eines Referenten des Bundesvorstands für internationale Fragen und Solidarität wahrnimmt.

Von Raussendorff ist verwitwet und hat drei Kinder und sieben Enkelkinder. Er lebt in Bonn.

(Foto mit freundlicher Genehmigung von arbeiterfotografie.com)

MM: Sehr geehrter Herr von Raussendorff, bevor wir zu Ihren aktuellen Aktivitäten kommen, erlauben Sie uns eine Frage zu Ihrer Vergangenheit. Was denken Sie rückwirkend darüber, dass sie vier Jahre im Gefängnis verbringen mussten, verurteilt für die Spionage für einen Staat, den es heute nicht mehr gibt?

von Raussendorff: Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten diente die Strafverfolgung der ehemaligen Kundschafter der DDR nicht mehr dem legitimen Schutz der BRD gegen die Spionage der "fremden Macht" DDR. Dass es trotz dieser rechtlichen Problematik zur Verfolgung der ehemaligen DDR-Agenten kam, entsprach allein einem Wunsch nach Rache und Abrechnung. Die DDR sollte "delegitimiert" werden. Das machte es auch leichter, die Vermögenswerte der DDR und ihrer Bewohner zu enteignen. Die scheinbar "normale" Bestrafung von DDR-Spionen bildete den Einstieg in die Verfolgung und Diskriminierung Hunderttausender ehemaliger Funktionsträger der DDR. Dies hatte auch den Zweck, diejenigen, die für den Aufbau eines sozialistischen Staates gelebt und gekämpft hatten, aus dem öffentlichen Leben auszuschalten und als Zeitzeugen zum Schweigen zu bringen. Das Ziel war, "Die DDR unterm Lügenberg" zu begraben, wie der Titel eines kürzlich erschienenen Buches des ehemaligen DDR-Diplomaten Ralph Hartmann lautet...

MM: Würden Sie sich heute noch als Kommunisten bezeichnen, oder eher als Antikapitalisten?

von Raussendorff: Kommunisten sind Gegner des Kapitalismus. Sich für antikapitalistisch zu halten aber das Ziel einer höheren Form der Gesellschaft, die auf Gemeineigentum und wirklicher Demokratie beruht, abzulehnen, kann einem in dieser Gesellschaft vielleicht einigen Ärger ersparen, erscheint mir aber nicht besonders konsequent. Wer einmal in die wissenschaftliche Weltanschauung des dialektischen Materialismus eingedrungen ist, hat wahrscheinlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder er oder sie wendet sich bewusst vom Marxismus ab, was nicht heißt, automatisch Anti-Kommunist zu werden. Oder er oder sie bemüht sich, die marxistische Philosophie und Denkmethode immer bewusster zu handhaben. Das hat natürlich praktische Folgen. Man sucht nach Möglichkeiten, wie man selbst dazu beitragen kann, die Barbarei des Kapitalismus zu überwinden. Dieses Ziel ist es, das man zum Ausdruck bringt, wenn man sich als Kommunist bezeichnet.

MM: Aus Sicht vieler Muslime ist der Marxismus aber durch seine rein materielle Anschauungsform und Grundlage und dieser Verneinung der spirituellen Bedürfnisse des Menschen nur ein Bruder des Kapitalismus. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?

von Raussendorff: Ich habe eine hohe Meinung vom Islam, besonders weil der Islam, wenn ich recht verstehe, dem rationalen Denken und der Philosophie eine eigene Zuständigkeit und Würde eingeräumt hat, und zwar im Unterscheid zum Christentum von Anfang an. Daher waren frühe islamische Denker auch in der Lage, das philosophische Denken der Antike zu bewahren und weiterzugeben. Angesichts der Aufforderung des Islam, rational zu denken, kann ich einfach nicht glauben, dass es allzu viele Muslime gibt, die sich von dem plumpen Versuch täuschen lassen, den Marxismus, eine Weltanschauung, mit dem Kapitalismus, einer Gesellschaftsformation, gleichzusetzen. Schließlich sind Marxisten die schärfsten Kritiker des Kapitalismus und wollen ihn theoretisch und praktisch überwinden. Nachvollziehbar scheint mir allerdings, dass eine bestimmte Politik der Sowjetunion, die darin bestand, die revolutionären Befreiungsbewegungen weitgehend wie Spielkarten im Großmächtepoker des kalten Krieges zu behandeln und dabei das Ziel des Weltsozialismus aus den Augen zu verlieren, aus der Sicht islamischer und anderer Länder den Anschein einer Kumpanei feindlicher Brüder haben konnte. Islam und Marxismus sind Weltanschauungen unterschiedlichen Typs. Der Marxismus ist konsequenter Monismus: Die Totalität des Seins wird als dialektische Einheit von Materie und Geist, von Materie und Widerspiegelung aufgefasst. Der Islam geht, soweit ich verstehe, von einer Dualität aus: Das göttliche Absolute und die reale Welt werden nicht als Pole einer dialektischen Einheit verstanden, aber das Göttliche ist in der von ihm streng unterschiedenen Realität von Mensch und Natur dennoch allgegenwärtig. Trotz dieses ontologischen Unterschieds kommen Marxismus und Islam vielfach zu gleichen ethischen Schlussfolgerungen, z. B. in der Frage der universellen Gerechtigkeit, für die es zu streiten lohnt.

MM: Sie waren ja nicht nur Spion sondern auch deutscher Diplomat in hohen Stellungen. Wie ist es ihrer Meinung nach zu erklären, dass die heutige deutsche Diplomatie zunehmend Gefahr läuft, auf Seiten von Völkerrechts- und Kriegsverbrechern zu stehen?

von Raussendorff: von Raussendorff: Ja, ich war Spion. Mögen Historiker herausfinden, ob und wie wir DDR-Kundschafter in der besonderen Situation des kalten Krieges und der deutschen Zweistaatigkeit der Sache des Friedens und des Sozialismus gedient haben. Ich jedenfalls bin davon angesichts der gefährlichen Entwicklung nach der vorläufigen Niederlage der Arbeiterklasse mehr denn je überzeugt. Ich musste mich damals nicht verstellen, um für die BRD als Diplomat zu fungieren. Nicht nur, dass dieser Beruf meinen Neigungen und Interessen entgegenkam. Da gab es auch eine Menge Aufgaben, die ich trotz des kapitalistischen Charakters der BRD und ihrer Politik als legitim und sinnvoll ansah und engagiert erfüllt habe. Dagegen frage ich mich jetzt manchmal, wie die heutigen deutschen Diplomaten damit zurecht kommen, dass die Regierung unseres Landes sich an Völkerrechtsbruch und Kriegsverbrechen beteiligt. Dies ist keine in der Zukunft liegende Gefahr, wenngleich eine weitere Eskalation zu befürchten ist, sondern z.B. in Afghanistan ebenso wie zuvor in Jugoslawien aktuelle Wirklichkeit. Um diese verhängnisvolle Wendung der deutschen Politik zu erklären, bedürfte es einer umfassenden und komplexen Analyse der Weltlage. Einfach gesagt: Den USA, Deutschland und anderen imperialistischen Staaten steht heute keine Koalition antiimperialistischer Kräfte als Gegengewicht gegenüber. Dass allerdings die Politik der NATO- und EU-Regierungen auf wachsenden Widerstand und die vielfältigsten Formen von Gegenreaktionen stößt, kann man mit großem Interesse feststellen. Ende Juli schlug der russische General Iwaschow vor, dass die Staaten der 1999 gegründete Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), der Russland, China und Indien (als Beobachter) angehören, „ihre Bündniskräfte und das Potential aller Länder zusammenschließen, die eine selbständige Politik betreiben können und wollen". Wenn sich die islamische Welt und die Länder Lateinamerikas der Shanghaier Organisation anschließen, meint dieser General, so werde die SOZ zu einer Organisation mit globalem Einfluss.

MM: Zu Ihrem Engagement gehört auch, sich für die Freilassung von Marwan Barghouti aus israelischen Gefängnissen einzusetzen. Wie erklären Sie sich, dass auf der einen Seite einige engagierte Bürger sich selbst um Einzelpersonen einsetzen und auf der anderen Seite der Großteil der Bevölkerung gar nichts von Tausenden von politischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen weiß, darunter auch Frauen und Kinder?

von Raussendorff: Gerade um auf die Lage aller palästinensischen politischen Gefangenen Israels aufmerksam zu machen, von denen Marwan Barghouti der wohl prominenteste war und ist, haben wir vor vier Jahren in Berlin eine Konferenz organisiert, an der unter anderem eine israelische Rechtsanwältin und einer ihrer israelisch-palästinensischen Kollegen teilnahmen. Wie üblich, fand das Thema dieser Konferenz so gut wie kein Interesse bei den Medien. Ja, wie kann man sich erklären, dass ein einziger gefangener israelischer Soldat weltweit monatelang Schlagzeilen macht, während Palästinenser, die von israelischen Sicherheitskräften sozusagen routinemäßig verschleppt, gefoltert und inhaftiert werden, im öffentlichen Bewusstsein nicht zu existieren scheinen? Es ist außerordentlich schwierig, allein mit Informationen und Aufklärung Breschen in diese selektive Wahrnehmung der Öffentlichkeit schlagen zu wollen. Das liegt meiner Ansicht nach daran, dass in einer Gesellschaft, in der Profit und Ausbeutung oberste moralische Werte sind, und die Konkurrenz aller gegen alle eine seelische Kälte und Verkrüppelung erzeugt, auch Mitgefühl mit anderen Menschen, zumal in fremden Ländern, spontan nur dann entsteht, wenn diese Art Empathie mit irgendwelchen Erwägungen der Nützlichkeit für sich oder die eigene Klasse übereinstimmen. Diese Art selektiver Empathie nimmt unter den gegebenen Herrschaftsverhältnissen meist einen ausgesprochen rassistischen Charakter an. Mitleid wird zu einer Frage der Hautfarbe, Religion oder kulturellen Identität. Wo man sich hingegen bewusst ist, mit allen Menschen, die unter den herrschenden Verhältnissen ausgebeutet, erniedrigt und unterdrückt werden, in der gleichen Lage zu stecken, da entsteht internationalistische Solidarität, das kann Mitgefühl mit einem gefangenen israelischen Soldaten einschließen, der letztlich Opfer seiner eigenen Regierung ist.

MM: Haben Sie Ihrem Ex-Chef Markus Wolf vor seinen Israel-Reisen kontaktiert, damit er sich für die Palästinenser einsetzt?

von Raussendorff: Nein, dazu hatte ich keine Gelegenheit. Leider ist „Mischa“ im November letzten Jahres gestorben. Ich will aber auch betonen, dass nach meiner Auffassung, nur der Widerstand der Palästinenser - zusammen mit einer internationalen Mobilisierung zur Unterstützung ihrer legitimen Bestrebungen - den Druck auf die herrschende Klasse in Israel und den USA erzeugen kann, der nötig ist, um zu einem friedlichen Zusammenleben von Israelis und Palästinensern zu kommen. Es hilft natürlich, wenn Prominente wie der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter deutlich darauf hinweisen, dass die israelische Apartheid-Politik schlimmer ist als die des früheren rassistischen Südafrika.

MM: Sie haben 2003 zu einem Buch einen Artikel mit dem Titel beigetragen: "Die Schlacht ist noch zu gewinnen". Um welche "Schlacht" geht es da, und kann man nicht auch in anderen Kategorien versuchen die Welt zu verbessern als in "Schlachten"?

von Raussendorff: Der Titel bringt die Überzeugung zum Ausdruck, dass es den Völkern der Welt auch nach der vorläufigen Niederlage der Arbeiterklasse immer noch möglich ist, sich von einem irrationalen, zerstörerischen Gesellschaftssystem zu befreien. Die Metapher der Schlacht ist hier erkennbar im Sinne eines umfassenden Kampfes für eine bessere Gesellschaftsordnung gemeint. Auch Dschihad, ein Wesenszug der islamischen Zivilgesellschaft, ist ein solcher umfassender Begriff. Ich beziehe mich dabei auf den bedeutenden islamischen Denker Rachid Al-Ghannouchi. Dieser schreibt: „Dschihad ist das ständige Bemühen, gegen alle Formen von politischer oder ökonomischer Tyrannei zu kämpfen, weil im Schatten des Despotismus das Leben keinen Wert hat. Der Islam führt Krieg gegen Despotismus“. Ghannouchi, der auch Führer einer islamischen Partei Tunesiens ist, benutzt also ebenfalls eine militärische Metapher, und er definiert diesen "Krieg" als "eine Abfolge von Haltungen, die von einem Herzen ausgehen, welches das Böse scheut. Dies kann dann, je nach Fähigkeit und Ressourcen, weiter führen zu einer Verurteilung des Despotismus mit nicht-gewaltsamen Mitteln wie der freien Meinungsäußerung, des öffentlichen Redens, Schreibens oder Demonstrierens und, wenn nötig, bis zum Gebrauch von Gewalt." Auch der Kommunismus führt "Krieg", aber er ist nicht "von Natur aus gewalttätig", auch wenn dies von seinen Gegnern immer wieder behauptet wird. Bewaffneter Widerstand gegen fremde Besatzung ist politisch, moralisch und völkerrechtlich legitim. Wenn behauptet wird, der Islam verherrliche die Gewalt um der Gewalt willen, so dient dieser Vorwurf oft nur dem Zweck, Muslime - und nicht nur diese - einzuschüchtern, damit sie auf Distanz gehen, wenn in Irak, Afghanistan, Libanon und Palästina von islamischen und anderen Kräften Widerstand gegen Krieg und Besatzung geleistet wird.

MM: Ihr jüngster Beitrag zu einem Buch ist betitelt "Der Israel/Palästina-Konflikt - Zur weltpolitischen Dimension eines Kampfes für nationale Souveränität und Demokratie". Sie behandeln ein Thema, bei dem gerade die deutsche Sicht vergangenheitsbedingt nicht unbefangen ist. Was halten Sie von der Vorstellung, dass der Konflikt nicht "national" sondern menschlich dadurch gelöst wird, dass ein gemeinsamer Staat von gleichberechtigten Bürgern vergleichbar Südafrika angestrebt wird?

von Raussendorff: Dass Israel zu einem Staat aller seiner Bürger werden muss, ist in den letzten Monaten von den politischen Repräsentanten der palästinensischen Staatsbürger Israels so klar und nachdrücklich wie nie zuvor gefordert worden, auch wenn die meisten westlichen Medien keine Notiz davon nehmen. Die etwa 1 Million palästinensischen Israelis sind im "jüdischen" Staat Israel nur am Rande geduldet, "am Rande der israelischen Gesellschaft wie am Rande der regionalen Gesellschaft", um den israelisch-palästinensischen Politiker Azmi Bishara zu zitieren, der von den israelischen Behörden gerade als Vorkämpfer der Umwandlung Israels in einen demokratischen Staat ohne ethnische Privilegien verfolgt wird. Dass Israel das Existenzrecht der Palästinenser missachtet, indem es alles tut, um die Bildung eines lebensfähigen palästinensischen Staates zu verhindern, dass Israel die palästinensischen Gebiete durch die israelischen Sicherheitsorgane, durch jüdische Siedlungen, durch Isolierung der palästinensischen Enklaven von einander sowie von der Außenwelt sowie jüngst sogar durch Inszenierung eines palästinensischen Bürgerkrieges einem in der Welt beispiellosen Besatzungsregime unterwirft, wird mit der Behauptung gerechtfertigt, dass dies zur Sicherung der Existenz Israels notwendig sei. Aber nicht die Existenz des Staates Israel ist gefährdet. Unhaltbar ist der zionistische Charakter des Staates Israel, der Juden in aller Welt, ob sie dies wollen oder nicht, exklusive Rechte einräumt, während er den wirklichen, lebendigen Menschen, die in ihrer angestammten palästinensischen Heimat im Staate Israel und unter israelischer Besatzung leben, das Recht verweigert, in Würde zu leben. Um den Nahostkonflikt einer friedlichen Regelung näher zu bringen, genügt es nicht, eine "Zwei-Staaten-Lösung" anzustreben, zu der sich ja, wenigsten in Worten, auch die deutsche Regierung bekennt. Es ist nach Meinung vieler fortschrittlicher Israelis und Palästinenser erforderlich, alle Probleme des Israel/Palästina - Konflikts (Status von Jerusalem, Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge, Verteilung der Wasserressourcen etc.) auf der Grundlage des Prinzips einer jüdisch-palästinensischen Binationalität anzugehen. Das bedeutet, dass nur binationale staatliche Strukturen in Israel selbst wie auch vielleicht eines Tages in Gestalt einer israelisch-palästinensischen Föderation eine sichere Zukunft für Palästinenser und Juden gewährleisten können. Die Zukunft von Juden in Israel zu sichern, bedeutet nach Meinung der fortschrittlichen Israelis, sich für die Lebensrechte der Palästinenser einzusetzen. Dies scheint mir auch die einzig richtige Schlussfolgerung, die wir Deutsche aus unserer historischen Schuld des Völkermords an den europäischen Juden ziehen müssen.

MM: Einstmals haben sie sich mit dem damaligen Feindbild intensiv beschäftigt. Können Sie sich vorstellen sich genau so intensiv mit dem neuen Feindbild der westlichen Welt zu beschäftigen?

von Raussendorff: Früher habe ich mich nachrichtendienstlich mit realen feindlichen Mächten beschäftigt. Heute beschäftige ich mich, wie Sie richtig vermuten, publizistisch unter anderem auch mit Feindbildern, d.h. mit der Frage, wie und wozu sie produziert werden. Das Feindbild "Islam", auf das Sie offenbar ansprechen, ist in der westlichen Zivilisation nicht "neu", sondern hat eine Geschichte, die sich über mindestens 900 Jahre erstreckt. Das erleichtert die Diabolisierung islamischer Kräfte, weil an überkommene Ressentiments und Klischees angeknüpft werden kann. Auch ist die aktuelle Islamophobie nicht in dem Sinne neu, dass sie nun das Feindbild "Kommunismus" gänzlich verdrängen würde. Gerade in jüngster Zeit erleben wir in Osteuropa ein Wiederaufleben aggressiver anti-kommunistischer Tendenzen, wozu auch bestimmte Kräfte in der EU und im Europarat beigetragen haben. Die antiislamische Feindbild-Produktion zu kritisieren, bedeutet zunächst, über die soziale Wirklichkeit islamischer Länder in relevanten Zusammenhängen und differenziert zu informieren. Man muss aber auch erklären, wie ein bestimmter Rahmen der Wahrnehmung erzeugt wird. Es ist, wie die Medienwissenschaftler sagen, ein solcher "frame", der dafür sorgt, das die einzelnen Informationen von den Medienkonsumenten in einem vorgegebenen Sinne eingeordnet werden. So entsteht eine zumindest passive Akzeptanz dafür, dass die Machteliten des Westens den Völkern des Großen Mittleren Ostens nicht gestatten, ihr politisches Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ein solcher Rahmen beruht auf der generellen Vorstellung, dass der Westen in dieser Region wie überhaupt in der Welt eine "zivilisatorische" Mission hat. Um westliche Einmischung und Aggression gegen islamische Länder akzeptabel erscheinen zu lassen, wird der Islam als "irrational", "gewaltbereit", "bedrohlich" etc. dargestellt, und dies durchaus auf der Basis ganz unterschiedlicher weltanschaulicher Denkweisen. Die Skala der am Feinbild "Islam" mitwirkenden Ideologien ist breit. Da ist in erster Linie ein bestimmter totalitärer Säkularismus, der aus jeglichen historischen Zusammenhängen herausgelöst ist. Dies ist die bevorzugte Ideologie der Diktatur der Märkte, die heute dominant ist. Daraus ergibt sich der Anspruch auf ein Definitionsmonopol für Demokratie und Menschenrechte, das dazu beiträgt, die Strukturen islamischer Zivilgesellschaften zu verkennen und pauschal abzuwerten. Hinzukommt ferner auf "spirituellem" Gebiet eine angeblich überlegene theologische und moralische Kompetenz des Christentums und seiner Instanzen. Und nicht zuletzt betreiben Rechtsextreme und Pro-Zionisten eine offen rassistische Hetze gegen Muslime. Diese Erscheinungen stellen eine enorme Herausforderung dar, denen sich fortschrittliche Religions- und Ideologiekritik zu stellen hat.

MM: Herr von Raussendorff, wir danken für das Interview.

Links zum Thema

  • Antiimperialistische Korrespondenz
  • „Die Schlacht ist noch zu gewinnen“ in Klaus Eichner/Gotthold Schramm (Hrsg.), Kundschafter im Westen - Spitzenquellen der DDR-Aufklärung erinnern sich, (Edition Ost) Berlin, 2003, S. 80 vorab in der jungen Welt und Fortsetzung
  • „Der Israel/Palästina-Konflikt - Zur weltpolitischen Dimension eines Kampfes für nationale Souveränität und Demokratie“ in Nikolaus Brauns/Dimitri Tsalos (Hrsg.), Naher und Mittlerer Ost - Krieg, Besatzung, Widerstand, (Pahl-Rugenstein) Bonn 2007, S. 65 ff.
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