Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Prof. Geitmann
 

Muslim-Markt interviewt
Prof. Dr. Roland Geitmann, Vorsitzender der Christen für gerechte Wirtschaftsordnung (CGW) e.V.

4.12.2008

Prof. Roland Geitmann ist 1941 bei Rostock geboren und vorwiegend in Schleswig-Holstein aufgewachsen. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft in Freiburg i.Br. und Berlin und Promotion 1970 arbeitete er vier Jahre lang in der Innenverwaltung des Bundeslandes Baden-Württemberg (Landratsämter Emmendingen und Donaueschingen sowie Regierungspräsidium Tübingen). Ab 1974 war er acht Jahre lang Oberbürgermeister der Großen Kreisstadt Schramberg.

1983 wurde R. Geitmann als Professor für öffentliches Recht an die Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl berufen. Seine Publikationen behandeln vorwiegend Fragen des Geldwesens, der Bodenordnung und der Demokratieentwicklung. Seit 1988 ist er Vorsitzender der Christen für gerechte Wirtschaftsordnung (CGW) e. V. 1997-2008 war er Sprecher des Kuratoriums von Mehr Demokratie e. V. .

Prof. Geitmann ist verheiratet, hat drei Kinder und drei Enkelkinder und lebt in Kehl.

M: Sehr geehrter Herr Prof. Geitmann, der Verein "Christen für gerechte Wirtschaftsordnung (CGW) e.V." tritt für ein anderes Wirtschaftssystem ein. Was sind die Eckpfeiler jenes Systems und worin unterschiedet es sich vom Kapitalismus?

Geitmann: Die Christen für gerechte Wirtschaftsordnung wollen dazu beitragen, die „Marktwirtschaft vom Kapitalismus zu befreien“. Die Marktwirtschaft als freies Für- und Miteinanderarbeiten ist kapitalistisch verzerrt durch Privilegien an Gemeinschaftsgütern, nämlich an der Erde, am Geld und am Wissen. Deswegen treten wir ein:

- für eine Eigentumsordnung, die an Naturressourcen nur (zumeist entgeltliche) Nutzungsrechte gewährt,
- für ein Geld, das sich z. B. durch eine Liquiditätsabgabe dienend anbietet, statt sich bei wenigen Reichen anzuhäufen,
- und (durch ein freies Bildungswesen und Einschränkungen des Patent- und Urheberrechts) für gleichen Zugang aller Menschen zum Wissen.

MM: Viele Menschen - darunter auch Christen - denken beim Zinsverbot zunächst an den Islam, obwohl das Zinsverbot bereits im alten Testament verankert ist und von Jesus nicht bekannt ist, dass er jenes Verbot aufgehoben hätte. Warum werden Zinsen von den christlichen Kirchen heute toleriert, hingegen von Ihrem Verein nicht?

Geitmann: Das Zinsverbot der Thora und des Koran erinnert uns daran, dass wir die uns von Gott geschenkte Zeit nicht zu Geld machen dürfen. Bloßes Zuwarten darf keinen Lohn erwarten; die Tatsache, früher geboren zu sein, begründet keinen Leistungsanspruch gegen Nachgeborene. Konsumaufschub durch Leihen und Sparen löst in Wirklichkeit beiden Seiten kein Problem.

Die Christen für gerechte Wirtschaftsordnung wollen allerdings den Zins nicht abschaffen; denn er erfüllt wichtige marktwirtschaftliche Funktionen, indem er Angebot und Nachfrage in Einklang bringt, Risiken und Vermittlungskosten abdeckt und Inflation ausgleicht. Aber wir wollen das Sinken des Zinses ermöglichen, so dass der Realhabenzins um Null pendelt und nicht um 3 oder 4 %. Das könnte vermutlich durch eine Liquiditätsabgabe erreicht werden oder auch durch allmähliches Abschmelzen von Guthaben.

Im Kern geht es uns darum, Zinseszinseffekte zu vermeiden, welche die Wirtschaft unter zerstörerischen Wachstumszwang setzen und Reich und Arm auseinanderdriften lassen. Diese fatalen Auswirkungen unseres Geldsystems hatte Martin Luther noch im Blick; auf protestantischer Seite wurden sie seit etwa 1600, auf katholischer Seite seit dem 19. Jahrhundert zunehmend verdrängt, wohl weil auch Kirchen zum Teil von Kapitaleinkünften leben.

MM: Und wie wäre es, wenn es in einem zinslosen System auch keine Inflation gäbe? Das Zinssystem als Geldmengenregulator tritt ja dann ein, wenn es Geld gibt, was keinen Gegenwert besitzt. Wenn aber Geld auf das reduziert wird, was es ist, nämlich ein normierter Schuldschein, könnten Sie sich dann auf ein absolutes Zinsverbot vorstellen bzw. würde es nicht ihrer Vorstellung eines Realzinses von Null entsprechen?

Geitmann: Es gibt sicher mehrere Wege, um die verheerenden Auswirkungen des Zinseszinssystems loszuwerden. Ein Wettbewerb vielfältiger Suchbewegungen kann dabei nur nützlich sein. Wir Christen jedenfalls beobachten mit großem Interesse und Sympathie die von islamischen Banken praktizierten Formen der Gewinn- und Verlustbeteiligung, wie wir uns auch durch die Netze zinsloser Leihe im Umfeld von Synagogen zu ähnlichen Leihgemeinschaften anregen lassen.

MM: Im bestehenden Wirtschaftssystem wird die zumeist von Frauen geleistete sehr umfangreiche, komplexe und verantwortungsvolle Erziehungs- und Familienarbeit, die mehr als ein Vollzeitjob ist, nicht im geringsten so honoriert wie die einfachste Tätigkeit außer Haus. Ihr Verein tritt für eine angemessene Entlohnung und Absicherung ein. Muslime, die das lesen, sind fasziniert und überrascht zugleich, zumal die Forderung genau dem islamischen Modell in diesem Bereich entspricht. Wie begründen Sie Ihre Forderung und woher nehmen Sie die Kraft und den Mut gegen den so genannten Zeitgeist zu schwimmen?

Geitmann: Füreinander zu arbeiten ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Arbeit sollte der Sache und der Menschen wegen geschehen, ist keine Ware und kann deswegen eigentlich auch nicht bezahlt und "entlohnt", sondern nur ermöglicht und angemessen gewürdigt werden.

Die vorwiegend von Frauen geleistete Erziehungs- und Familienarbeit ist die allerwichtigste und bedeutsamste. Diese nachhaltigste, weil dem Werden der nächsten Generation dienende Arbeit sollte finanziell dadurch abgesichert werden, dass für Kindererziehungszeiten bis zum 18. Lebensjahr eine staatlich garantierte Rente gezahlt wird. Die Christen für gerechte Wirtschaftsordnung haben hierzu die Idee des Sozialreformers Silvio Gesell aufgegriffen, wonach diese Rente aus den Bodennutzungsentgelten zu finanzieren sei.

MM: Sie erinnern damit an ein biblisch verankertes und auch im Islam bekanntes Bodennutzungsentgelt und fordern eine Art Quasiverstaatlichung von Gütern, die allen Menschen gemeinsam gehören, wie z.B. Bodenschätze, Energiequellen und Wasser. Stoßen Sie hierbei nicht auf entschiedenen Widerstand der regierenden christlichen Partei?

Geitmann: Die Erkenntnis, dass die Erde in gleicher Weise allen Menschen zusteht, ist in der Tat Grundwissen aller Religionen und verbindet uns. Soweit wir Teile der Erdoberfläche, Wasser, Rohstoffe und Energie in Anspruch nehmen oder die Atmosphäre durch Abgase und Lärm belasten, wären in einer gerechten Weltwirtschaftsordnung Entgelte zu leisten, die wiederum an alle Menschen pro Kopf zurückverteilt werden und für die bescheidener Lebenden ein Grundeinkommen bilden. Wasserknappheit und Klimaprobleme werden uns diese Einsichten zunehmend ins Bewusstsein bringen.

Um Mandate und Macht ringende Parteien können dem schwerlich vorauseilen, nicht einmal diejenigen, die sich (eher irreführend) "christlich" nennen und mit ihrem Ahlener Programm von 1947 schon einmal weiter waren. Bestenfalls bilden sie ab, was in der Gesellschaft lebt. Wichtiger wäre deshalb, dass die Kirchen und Religionsgemeinschaften zu den Fragen gerechter und nachhaltiger Wirtschaftsordnung klar Stellung beziehen. Dies ist in einigen Entschließungen des Reformierten und des Lutherischen Weltbundes und ansatzweise auch durch Sozialenzykliken der katholischen Kirche geschehen, aber in Äußerungen etwa der EKD (Evangelischen Kirchen in Deutschland) kaum präsent.

MM: Bei den "Quellen" Ihrer Erkenntnis nennen Sie offenbar unbeeinflusst vom aktuellen Feindbild neben den biblischen Propheten und erwartungsgemäß Jesus Christus auch Mohammed. Haben Sie denn keine Angst vor dem Islam?

Geitmann: Nichts wäre irriger als ein "Feindbild Islam". Ganz im Gegenteil: Der Islam hält uns westlichen Industrienationen einen heilsamen Spiegel vor die Augen, in dem wir erschreckt erkennen, dass wir mit dem Raubtierkapitalismus das Gegenteil unseres christlichen Anspruchs verwirklicht haben, und das auf dem Feld der arbeitsteiligen Wirtschaft, die eigentlich auf tätige Liebe, auf ein Für- und Miteinander, angelegt ist. Deswegen ist die Begegnung mit dem Islam für uns Europäer eine welthistorische Chance, uns auf die eigenen und mit dem Islam gemeinsamen Grundlagen zu besinnen, damit künftiges Leben auf dieser Erde möglich bleibt.

MM: Von einem islamischen Bankwesen schreiben derzeit auch deutsche Medien. Ist denn auch schon einmal ein in Ihrem Sinn akzeptables christliches Bankenwesen angedacht worden?

Geitmann: Wichtig ist nicht das Etikett, ob islamisch oder christlich, sondern ob das Bankwesen sachgemäß und menschendienlich ist. Dafür gibt es auch im mitteleuropäischen Kulturraum mancherlei Ansätze, z. B. die (anthroposophisch geprägte) GLS Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken.

MM: Sie Verbreiten Ihre Thesen u.a. auch durch Referate. Welche Erfahrungen machen Ihre Referenten mit dem Publikum, das mit einer ihm zumeist unbekannt deutlichen Ablehnung des real existierenden Kapitalismus konfrontiert wird, noch dazu von bekennenden Christen?

Geitmann: Wer zu einer solchen Veranstaltung geht, ist in der Regel selbst schon auf dem Weg und reagiert positiv. Problematischer sind deswegen das Beharrungsvermögen der Amtskirchen, die Vernebelung durch Wissenschaft, Medien und am derzeitigen System interessierte Kreise und die Stummheit der ausgebeuteten Bevölkerungsmehrheit.

MM: Das kapitalistische System ist gekoppelt an eine materialistische Weltanschauung. In wie weit spielt die spirituelle Dimension des Manschen eine Rolle bei Ihren Überlegungen zum Wirtschaftssystem?

Geitmann: Wir betonen die Notwendigkeit, die Rahmenordnung für die Wirtschaft zu verändern, weil sie derzeit das Mieseste im Menschen, materialistisches Gewinnstreben auf Kosten anderer, aktiviert und alle Versuche Einzelner um sozial-ökologisch verantwortliche Lebensweise letztlich unterläuft. Aber wirksam werden Bemühungen um systemische Veränderungen nur durch Menschen, die selbst schon ein Stück vorangeschritten sind, sich den scheinbaren Sachzwängen des Wirtschaftslebens entziehen und ihre Energien aus spirituellen Seinsebenen beziehen.

In dieser Gemeinsamkeit liegen das Befruchtende der Begegnung zwischen Christentum und Islam und die Aufgabe, nach der Sklerose der staatlichen Planwirtschaft nun auch die andere materialistische Erkrankung der Gesellschaft, den kapitalistischen Krebs, zu überwinden und eine solidarische Ökonomie zu entwickeln.

MM: Was bedeutet das konkret an Beispielen?

Geitmann: Dank des täglichen Energiezustroms der Sonne reichen die Ressourcen dieser Erde aus, um auch 10 oder 12 Milliarden Menschen zu ernähren. Hungertote und materielle Not müsste es nicht geben. Wenn wir die eingangs erwähnten Privilegien abschaffen, können alle Menschen eine Existenzgrundlage finden. Wenn die Sorge um die nackte Existenz schwindet, erwacht das in jedem Menschen schlummernde Bedürfnis, sich für andere Menschen nützlich zu machen und von ihnen anerkannt zu werden. Diese Neigung und die sich dabei entfaltenden Fähigkeiten der Menschen würden uns und allen künftigen Generationen erlauben, "in Fülle" zu leben.

MM: Herr Prof. Geitmann, Sie werden dieser Tage - so Gott will - zum vierten Mal Großvater. Was erhoffen Sie sich für Ihre Enkel in unserer Gesellschaft?

Geitmann: Wir hinterlassen unseren Enkeln einen Planeten mit durch uns verschlechterten, gefährdeten und ungerecht verteilten Lebensbedingungen. Meine Hoffnung ist, dass die nächsten Generationen noch Möglichkeiten finden und diese ausschöpfen, um zu einem gedeihlichen und nachhaltigen Miteinanderwirtschaften beizutragen, und dafür in den Religionen eine gemeinsame Inspirationsquelle der Menschheit finden.

MM: Herr Prof. Geitmann, wir danken für das Interview.

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