Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Stefan Rehder
 

Muslim-Markt interviewt
Stefan Rehder, Autor des Buches "Die Todesengel - Euthanasie auf dem Vormarsch"

17.9.2009

Stefan Rehder, M.A. (Jahrgang 1967) ist Journalist, Sachbuchautor und Leiter der Rehder Medienagentur in Aachen. Er studierte Neuere und Neueste Geschichte, Mittelalterliche Geschichte, Philosophie und Germanistik in Köln und München. Zunächst arbeitete er als freier Journalist u.a. für "Focus", "Deutschlandfunk" und "Rheinischer Merkur". Er war Redakteur bei der "Passauer Neuen Presse" und Pressereferent im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. Heute schreibt der praktizierende Katholik für Tageszeitungen und Magazine (u.a. als Korrespondent für die überregionale katholische Tageszeitung "Die Tagespost"), ist Redaktionsleiter der Zeitschrift "LebensForum" und hat mehrere Bücher zu Lebensrechtsthemen verfasst (zuletzt: "Die Todesengel - Euthanasie auf dem Vormarsch" im Sankt Ulrich Verlag 2009). Seit 1998 befasst er sich in der von ihm gegründeten Medienagentur mit Themen der Bioethik. Für seine journalistische Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet.

Stefan Rehder ist verheiratet und Vater von drei Kindern und lebt im Großraum Aachen.

MM: Sehr geehrter Herr Rehder, die Würde des Menschen ist gemäß dem ersten Artikel des bundesdeutschen Grundgesetzes unantastbar. Das Problem dabei ist, dass weder "die Würde" noch "der Mensch" genau definiert sind, sondern sich offenbar vielmehr einem Zeitgeist anpassen. Wie würden Sie "die Würde" und "der Mensch" definieren und was ist die Basis Ihrer Definition?

Rehder: Ich hoffe es überrascht Sie nicht, aber ich halte es für keinen Fehler, dass Begriffe wie "Mensch" und vor allem der Begriff der "Würde" im Grundgesetz nicht völlig eindeutig definiert sind. Gerade Letzteres geschah meines Erachtens mit voller Absicht. Dahinter steht, dass die Idee der Würde, die in Europa letztlich auf dem christlichen Gedanken der Gottesebenbildlichkeit des Menschen basiert, auch zustimmungsfähig für all diejenigen Menschen wird, die den christlichen Glauben nicht teilen. Man kann – wie ich zum Beispiel das tue – die besondere Würde des Menschen darauf zurückführen, dass Gott, wie Christen dies glauben, den Menschen nach seinem eigenen Bild und als sein Abbild erschaffen hat, aber man muss das nicht. Wenn man diese Begründung allerdings ablehnt, dann darf man eines nicht tun: Nämlich die Würde zu eng auslegen.

Würde ist etwas, das nicht an bestimmte Fähigkeiten und Vermögen des Menschen gekoppelt ist, sondern das dem Mensch als Menschen zu zukommt. Das muss ich nicht unbedingt mit Gott begründen, auch wenn dies in meinen Augen sicher die tiefste und sinnvollste Begründung wäre. Ich kann aber auch einfach argumentieren, dass kein Mensch das Recht hat, über einen anderen als Mensch zu Gericht zu sitzen. Über seine Taten und Handlungen – das schon, aber nicht über seine Zugehörigkeit zur Menschheit, die sich von der eigenen durch nichts unterscheidet. "Untermenschen", Menschen "zweiter" oder "dritter" Klassen, die kann es nicht geben und zwar unabhängig davon, ob ich Würde religiös begründe oder säkular – im Sinne eines Überschusses zur Gattungszugehörigkeit.

MM: Dennoch muss es ja eine Art Definition geben, damit ein Rechtsgrundsatz Sinn macht?

Rehder: Wie weit die Würde – unabhängig von der Art sie zu begründen – ausgelegt werden muss, das hat das Bundesverfassungsgericht als höchstes deutsches Gericht in einem seiner Abtreibungsurteile deutlich gemacht, als es formulierte: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Würde zu“. Würde ist nämlich das, was sich jeder Bewertung entzieht. Und zwar nicht nur einer Bewertung durch Dritte, sondern auch der Bewertung durch einen selbst. Weder andere noch ich selbst können mir die Würde rauben oder absprechen. Man kann – und es wird ja auch leider ständig praktiziert – Menschen so behandeln, als hätten sie keine Würde. Und auch die Menschen können sich selbst so aufführen, als hätten sie keine Würde. Fakt bleibt: Weder durch das eine noch das andere Fehlverhalten geht man der Würde – anderes als zum Beispiel der Ehre – verlustig.

Wenn es in Artikel 1 des Grundgesetzes heißt, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, dann soll damit also auch kein Wunsch oder ein Gebot zum Ausdruck gebracht werden. Sondern hier wird einfach festgestellt: So und nicht anders ist es: Würde hat man, ob man will oder nicht. Erst im Anschluss an diese Feststellung wird dann im weiteren Verlauf des Artikels betont, dass der Staat verpflichtet ist, die Würde zu achten und zu schützen. Misst man ihn daran, und genau daran muss man ihn zuerst messen, wird man leider nicht umhin kommen festzustellen: Hier geschieht leider immer noch viel zu wenig.

MM: Ihr neuestes Buch über die so genannte Sterbehilfe trägt im Titel den Begriff "Euthanasie, ein Begriff, der auch für die systematischen Morde zur Zeit des Nationalsozialismus als Teil der "Rassenhygiene" verwendet wurde. Ist das nicht ein wenig hart?

Rehder: Nun, darüber kann man vermutlich unterschiedlicher Meinung sein. Eigentlich kommt der Begriff "Euthanasie" ja aus dem Griechischen und bedeutet dort soviel wie "leichter Tod". Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass der Missbrauch eines Wortes – nicht einmal durch die Nazis – seinen korrekten Gebrauch verhindern können sollte. In meinem aktuellen Buch gebrauche ich den Begriff der "Euthanasie" als Oberbegriff für unterschiedliche Formen der Fremd- und Selbsttötung. Dazu zähle ich die "Tötung auf Verlangen", die in den Niederlanden ja bereits in rund 1000 Fällen pro Jahr zu einer "Tötung ohne Verlangen" mutiert ist, den "ärztlich assistierten" sowie den von medizinischen Laien begleiteten Suizid. Gemeinsam ist allen diesen Methoden, dass sie mit dem Ziel gesucht und verabreicht werden, den Betroffenen einen "leichten Tod" – oder besser, das was man dafür hält – zu bescheren. Insofern halte ich den Begriff der "Euthanasie" sowohl für zulässig als auch treffend. Darüber hinaus empfinde ich die negative Konnotation, die der Begriff der "Euthanasie" aufgrund der menschenverachtenden Rassenpolitik der Nazis in Deutschland und andernorts besitzt, eher als angenehmen Kontrast zu der weit verbreiteten, meines Erachtens jedoch unerträglich euphemistischen Rede von "Sterbehilfe". Denn hier wird Menschen ja nicht beim Sterben geholfen. Sofern sie nicht getötet werden, wird ihnen allenfalls dabei geholfen, sich selbst das Leben zu nehmen.

MM: Der zweite Begriff im Titel, der uns ein wenig überrascht hat, war "Todesengel". Die Engel Gottes holen eine Seele ausschließlich auf Geheiß des Allmächtigen. Welche Beweggründe haben menschliche "Todesengel" beim Sterben etwas "nachzuhelfen"?

Rehder: Nach christlichem Verständnis sind die Engel Diener und Boten Gottes. In den biblischen Erzählungen greifen die Engel auf vielfache Weise in die Geschichte der Menschen, als Künder oder Überbringer göttlicher Botschaften aber auch als Begleiter in Not und Gefahr. Dennoch kennt die Bibel – anders als der Koran – keine Todesengel. In unserer gegenwärtigen Welt, in der Gott ebenso wie das Heil der Seele aus dem Blickfeld vieler Zeitgenossen geraten sind, dienen sich selbsternannte Suizidbegleiter notleidenden Menschen als Beschützer vor weiterem Leiden und als Begleiter auf ihrer letzten Wegstrecke an. Diejenigen, die sich in ihrer Not auf sie stützen, weisen ihnen dabei oft eine engelähnliche Rolle zu. Doch was die menschlichen "Todesengel" bieten können, ist selbstverständlich nicht das Heil, sondern bloß der Tod. Mit der Metapher des Todesengels habe ich daher vor allem Zweierlei zum Ausdruck bringen wollen: Die unglaubliche Anmaßung, die hinter den Angeboten der Suizidbegleiter steht, aber auch die traurige Verlassenheit der Abnehmer solcher Angebote.

Was die Beweggründe betrifft, so kann natürlich auch ich keine Gedanken lesen. Und ich halte es auch durchaus für wahrscheinlich, dass viele der "einfachen" Suizidbegleiter derart fehlgeleitet sind, dass sie tatsächlich glauben, mit ihren Taten anderen Menschen einen Dienst zu erweisen. Was die Spitzen dieser Organisationen betrifft, bin ich allerdings anderer Meinung. Hier ist nicht nur zu viel Geld im Spiel, hier gibt es vor allem auch viel zu wenig Transparenz, um glauben zu dürfen, dass es hier nur falsch verstandene Barmherzigkeit ginge. Ich meine, dass hier sicher auch das Streben nach Profit eine große Rolle spielt, auch wenn sich das bislang nur begrenzt nachweisen lässt.

MM: Sie sehen in der heutigen Form der so genannten Patientenverfügung eine "Kapitulation vor den Missständen im Gesundheitswesen". Das Gesundheitswesen ist aber nur ein Teil des bestehenden auf Gewinnmaximierung getrimmten Systems. Wie soll man Ihrer Ansicht nach Schwerstkranke in einem Gesundheitssystem längerfristig und mit hohem medizinischem Aufwand versorgen können?

Rehder: Zunächst halte ich die Krise des Gesundheitssystems für weitgehend selbst gemacht. Die Idee eines solidarischen Gesundheitssystems hat als Teil des viel umfassenderen Modells des Generationenvertrages in Deutschland solange funktioniert, wie die Menschen hierzulande in ausreichender Zahl Kinder bekamen. In meinem Buch zeige ich darum auch ausführlich, wie der demografische Wandel, eine wachsende Lebenserwartung, steigende Gesundheitskosten sowie massenhafte Abtreibungen, der Euthanasie westlichen Industrienationen den Weg ebnen. Um die Finanzierung einer medizinisch adäquaten Versorgung in Zukunft sicherstellen zu können, brauchen wir langfristig vor allem mehr Beitragszahler. Das bedeutet konkret: Wir brauchen mehr und größere Familien und weniger Arbeitslose. Die Politik agiert hier bislang sehr kurzsichtig, wenn sie sich ausschließlich darum bemüht, Frauen in versicherungspflichtige Jobs zu treiben. Das wird zwar kurzfristig mehr Geld in die Sozialkassen spülen, langfristig wird dadurch aber der anhaltende Trend zu immer weniger Familien mit einer ausreichenden Kinderzahl noch weiter forciert. Wenn das so weiter geht, wird Gesundheit tatsächlich irgendwann unbezahlbar.

Momentan ist das noch nicht der Fall. In meinem Buch zeige ich, dass der flächendeckende Ausbau von Hospizen und Palliativmedizin, bei denen Sterbende in der letzten Phase ihres Lebens auf Erden menschenwürdig begleitet werden und "Palliativ Care" erhalten, eine pflegerische und medizinische Rundum-Betreuung erfahren, die sogar die Angehörigen miteinbezieht, in Deutschland durchaus bezahlbar wäre. Experten rechnen hier mit Mehrkosten von 600 bis 700 Millionen Euro im Jahr. Das ist auch für ein so reiches Land wie Deutschland sicher viel Geld. Aber es ist nicht unbezahlbar. Wir müssen nur andere Prioritäten setzen wollen. Was fehlt, ist nicht das Geld, sondern der Wille. Die Deutschen haben in den letzten acht Monaten für fünf Milliarden Euro neue Autos gekauft. Wenn das die Prioritäten in diesem Land bleiben sollten, dann darf sich allerdings niemand wundern, wenn der Begriff der "Abwrackprämie" demnächst nicht nur im Zusammenhang mit Alt-Autos verwandt wird.

MM: Tatsächlich nimmt die Zahl der Bürger in Deutschland trotz Zuwanderung ab. Aber kann es andererseits ein ewiges Wachstum auf einer begrenzten Erde geben? Muss es nicht auch ein Konzept der Qualitätsverbesserung verbunden mit den Konzepten Dankbarkeit und Genügsamkeit geben, die auch bei gleichbleibender Bevölkerungszahl zu realisieren wären?

Rehder: Grundsätzlich habe Sie da völlig Recht. Ewiges Wachstum funktioniert weder auf begrenztem Raum noch mit begrenzten Ressourcen. Aber wenn wir nachhaltig wirtschaften würden und endlich anfingen das Erwirtschafte gerechter zu verteilen, gäbe es auf dieser Erde noch für weit mehr Menschen Platz. Das Problem sind nicht die vielen Menschen, sondern der unglaubliche Reichtum einiger, und die entsetzliche Armut anderer. Und wenn Sie meinen, dass hier mehr Dankbarkeit und Genügsamkeit auf Seiten der Besitzenden Einzug halten muss, gebe ich ihnen wieder recht. Schwieriger finde ich, lassen sich jedoch Einschnitte in der Gesundheitsversorgung rechtfertigen, auf die wir zusteuern. Ich glaube, hier schulden wir einander, die bestmögliche Pflege und Versorgung, was allerdings auch nicht heißt, dass das immer auf teuere High-Tech-Medizin herauslaufen muss.   

MM: Im Judentum, im Katholizismus und im Islam ist der Selbstmord eine schwere Verfehlung gegen die dem Menschen von Gott geschenkte menschliche Natur und dementsprechend auch die Beihilfe zum Selbstmord eine schwere Sünde. Warum wird das in einer Gesellschaft, die vorgibt sich zumindest auf die jüdisch-christlichen Wurzeln zu berufen, so eklatant vernachlässigt?

Rehder: Wir sind in Deutschland keine christliche Gesellschaft mehr. Gott ist, wie ich schon sagte, aus dem Blickfeld vieler Menschen, das sich zunehmend auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse verengt, verschwunden. In unserem weitgehend hedonistisch gewordenen Land werden Begriffe wie Selbstverwirklichung und Lustmaximierung längst zu den entscheidenden "Werten" stilisiert. Vor dreißig Jahren noch hätte man solche Menschen noch einfach "Egoisten" genannt und sie verbal als "asozial" gebranntmarkt. Heute interessiert man sich weniger dafür, ob ein Mensch Tugenden hat oder sich sozial verhält, sondern mehr dafür, welche Umsätze er mit seinen Kreditkarten zu Stande bringt. Viele schauen zu solchen Menschen auf. Wo aber der Mensch vornehmlich als Konsument hofiert wird, da wird auch der Platz für religiöse Kategorien wie "Sünde" und "Heil" rar. Nicht umsonst heißt es etwa in der Bibel: „Niemand kann zwei Herren dienen“. Wir werden uns daher entscheiden müssen: Zwischen Gott und dem Mammon oder zumindest zwischen einer Sicht, in der andere Menschen als Bruder oder Schwester betrachtet werden und einer Sicht, in der andere Menschen auch nur ein weiteres Mittel darstellen, das ich zu meinem eigenen Vorteil und Nutzen manipulieren und ausnutzen darf.

MM: Aber selbst wenn man dem Mammon dienen würde, erscheint die Tötung zumindest aus Sicht der Wirtschaft nicht besonders "ertragreich". Denn schließlich ist der noch lebende Patient kostenintensiver, als der zum Selbstmord getriebene. Kann es nicht sein, das hier neben materialistischen Aspekten auch unmenschliche Vorstellungen wie "lebensunwertes Leben" eine Rolle spielen?

Rehder: Es spielt sicher beides eine Rolle. Wenn ich das richtig sehe, begreift sich unser Staat ja gewissermaßen auch als Unternehmen. Und in gewisser Weise muss er das, da er das Geld, das er an Steuern und Abgaben einnimmt, auch nur einmal ausgeben kann. Im Sinne des Lean-Management geht es also auch beim Staat darum, Kosten zu vermeiden. Das als vermeidbare Kosten auch die betrachtet werden, die alte und kranke Menschen verursachen - und im Alter ist das natürlich üblicherweise viel mehr als in jungen Jahren – das mag auch mit dem Menschenbild zusammen hängen. Das manchen nur das Starke und vermeintlich Autonome für "lebenswert" und das Schwache und vermeintlich Abhängige für "lebensunwert" halten, hängt mit einer hedonistischen Lebenseinstellung und einem evolutionistischen Weltbild zusammen. Das wiederum kann aber in einer Welt, die Gott zu vertreiben sucht, auch nicht wundern, wie ich meine.

MM: Die Kritik in Ihren Büchern zielt letztendlich darauf ab, dass der Mensch die von Gott gegeben Werte missachtet. Sehr plakativ bringen sie das in Ihrem früheren Buch "Gott spielen", das sich u.a. mit der Manipulation des menschlichen Erbguts beschäftigt, zum Ausdruck. Sind Sie ein Antikapitalist?

Rehder: Ich bin ein Antikapitalist, wenn sie unter einem Kapitalisten jemanden verstehen, für den Geld das höchste Gut darstellt, und der Moral und Ethik daran bemisst, in weit sie ihm helfen, dieses Gut zu vermehren oder dabei zumindest nicht im Wege stehen. Ich bin aber sicher kein Antikapitalist, wenn sie unter einem Kapitalisten jemanden verstehen, der Wert darauf legt, dass das, was er einsetzt – Geld, Arbeitskraft oder Hirnschmalz – Früchte bringt und sich irgendeiner Weise vermehrt.

Und was die Kritik in meinen Bücher betrifft, so sehe ich das doch ein wenig anders. Als Katholik, der sich bemüht, gemäß seinem Glauben auch zu leben – was vielen sicher bedeutend besser gelingt als mir – schaue ich natürlich von einem bestimmten Standort aus auf die Welt. Ich weiß, dass daraus resultierende Standpunkte nicht von allen geteilt werden und kann das auch respektieren. Worum es mir in meinen bioethischen Bücher geht, ist darum auch nicht eine Apologetik des katholischen Glaubens und seiner Lehre. Es stimmt, ich bin der Überzeugung, dass der Mensch, die von Gott gegebene Ordnung mit Füßen tritt. Und dennoch ist das eigentlich nicht mein Punkt.

Worum es mir geht, ist etwas anderes: Ich sehe, dass es uns als Menschen nicht gut tut, so leben, wie wir derzeit – besonders in den westlichen Industrienationen – leben. Und nirgendwo lässt dies sich meines Erachtens besser beobachten als auf dem Feld der Biotechnik, wo zugleich viele Weichen noch nicht endgültig gestellt sind. Dass wir Kinder im Mutterleib töten und Kinder im Labor zeugen, dass wir Kinder eigens als Zellspender für andere Kinder zeugen und dass wir – wie in Großbritannien – menschliches Erbgut mit tierischem vermischen, ja dass wir ernsthaft versuchen, Menschen zu klonen, all das tut uns nicht gut. Und es tut uns deshalb nicht gut, weil der Mensch hier jedes Mal als Mittel gebraucht, statt um seiner selbst willen gewollt wird. Natürlich könnte man fragen, warum schaden wir uns mit all dem selbst?

MM: ... Ja, genau das hätten wir jetzt gefragt ...

Rehder: In "Gott spielen" zitiere ich den Philosophen Günter Andres, der einmal mit Blick auf das "Human Engineering" meinte, weil hier der Mensch „ins Lager seiner Geräte desertiere“. Man braucht kein Prophet sein, ja noch nicht noch einmal ein religiöser Mensch, um einzusehen, dass so etwas nicht auf Dauer ohne Folgen für die Menschenrechte bleiben kann. Denn als Menschen mögen wir unsere Werke und Geräte ja bewundern, aber wir pflegen ihnen keine Rechte einzuräumen, und schon gar keine unantastbaren. Mit meinen Büchern möchte ich einen Beitrag dazu leisten, dass meinen Kindern, potentiellen Enkelkindern und unserer ganzen Gesellschaft ein Szenario erspart bleibt, in dem Menschen andere Menschen gewissermaßen als ihre Kreation und ihr Eigentum betrachten. Gott, der allmächtig und barmherzig ist, kann – ich hoffe, das klingt nicht despektierlich, denn so ist es nicht gemeint – meines Erachtens gut für sich selbst sorgen. Oder um es anders zu sagen: Gott braucht mich nicht, um für seine Rechte zu streiten. Wenn ihm das, was wir Menschen hier unten veranstalten, zu bunt wird, kann er den Basar zu dem wir die Erde gemacht haben, jederzeit schließen. Der Mensch aber, der weder allmächtig noch besonders barmherzig ist, der bleibt bis dahin darauf angewiesen, dass wir uns gegenseitig achten und uns eben nicht gegenseitig wie "Geräte" behandeln. Hierzu im Rahmen meiner begrenzten Fähigkeiten und Einsichten einen wahrnehmbaren Beitrag zu leisten, darin sehe ich meine Aufgabe und das ist auch der Grund für meine beiden, von Ihnen zitierten Bücher.

MM: Gott braucht den Menschen nicht, denn Er ist sich selbst genüge. Und genau das ist ja auch der Beweis für die absolut selbstlose Liebe Gottes gegenüber dem Menschen, ihn erschaffen zu haben, obwohl er ihn nicht braucht. Der Mensch hingegen kann nicht derart absolut und vollkommen selbstlos lieben. Gerade im Fall der Selbstmordhilfe stellt in vielen Fällen der langfristig Schwerkranke und Pflegebedürftige eine zugegebenermaßen hohe Belastung für die Angehörigen dar. Wie können wir uns selbst dazu erziehen, diese Belastung ebenfalls als Gnade zu empfinden, um sie nicht "loswerden" zu wollen?

Rehder: Nur indem wir einander noch besser lieben lernen. In aller Regel tragen wir doch gerne die Lasten derjenigen Menschen, die wir wirklich lieben oder zumindest den Teil, den wir ihnen abnehmen können. Wenn nun geliebte Menschen leiden, dann ist es oft gar nicht die "Arbeit", die uns dadurch entsteht, welche uns belastet, sondern, dass die Arbeit oft nicht ausreicht, um das Leiden zu beenden. Hier lässt sich meines Erachtens durch ein Wechsel der Perspektive schon viel erreichen. Wenn es uns zum Beispiel gelingt, unsere eigene Perspektive zu verlassen, in der - sagen wir – eine völlig schmerzfreie Stunde uns nicht allzu viel erscheint, und stattdessen die Perspektive des Leidenden einnehmen, in der eine völlig schmerzfreie Stunde weit mehr bedeuten kann, als zwei Wochen Urlaub am Meer für einen gesunden Menschen, dann schätzen wir den Beitrag, den wir in der Pflege und Betreuung eines Kranken leisten, viel besser ein und können daraus neue Kraft und Motivation ziehen. 

Manchmal werden wir in unserer schnelllebigen Welt, die uns oft sehr viel abverlangt, auch an der einen oder anderen Stelle für Entlastung sorgen müssen, damit wir uns besser um andere Menschen kümmern können. Und wenn es trotzdem schwerfällt, uns immer wieder neu geduldig einem anderen Menschen zuzuwenden, obwohl wir ihn längst lieb gewonnen haben, dann hilft – zumindest mir – der Gedanke, dass Gott auch mit mir unendliche Geduld beweist. Das macht mich dankbar und ist Ansporn zugleich.  

MM: Herr Rehder, wir danken für das Interview.

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