MM: Sie haben
im Dezember 2008 im Zentrum für Antisemitismusforschung eine
wissenschaftliche Konferenz mit dem Titel "Feindbild Muslim -
Feindbild Jude" über das Verhältnis von Antisemitismus und
Islamfeindlichkeit veranstaltet. Für viele Muslime erscheint seither
alles viel schlimmer geworden zu sein. Findet die Wissenschaft kein
Gehör mehr in Politik und Gesellschaft?
Prof. Benz: Das ist immer eine
Glückssache, ob die Wissenschaft in der Politik Gehör findet. Die
Politik agiert ja nach eigenen Gesetzen, die Politik schaut auf Wähler,
die Politik schaut dem Volk "aufs Maul". Und die Wissenschaft untersucht
Sachverhalte nach Möglichkeit ohne Leidenschaft und möglichst objektiv.
Die Ergebnisse werden dann nicht ohne Weiteres umgesetzt.
MM: Einer ihrer Mitarbeiter hat damals
auch über die Zunahme von so genannten Islamkritikern referiert.
Allerdings scheint "Islamkritiker" heutzutage ein sehr lukrativer Beruf
geworden zu sein. Warum finden diese Leute einstmals wie heute - nur mit
verschiedenen Vorzeichen - so viel Gehör?
Prof. Benz: Ich denke, sie finden
deshalb so viel Gehör - Populisten und Demagogen finden immer Gehör -
weil sie ein Gespür dafür haben, was Menschen ängstigt, was die Sorgen
von Menschen sind. Deshalb ist jetzt auch ein gewisses Buch so
erfolgreich und schlägt alle Rekorde. Deshalb sind in unseren
Nachbarländern Populisten und Demagogen einigermaßen erfolgreich, weil
sie Erwartungen und Ängste, vor allem Ängste, bedienen. Und wenn die
Menschen sich angehört fühlen, und bei ihren Vorurteilen, ihren
Feindbilder abgeholt werden, dann fühlen sie sich verstanden. Das ist
dann der Erfolg der Demagogen.
MM: Sie haben Anfang des Jahres in einem
Gastbeitrag für die Süddeutschen Zeitung geschrieben: "Feindbilder
sind Produkte von Hysterie. Sie konstruieren und instrumentalisieren
Zerrbilder der anderen. Wenn wir Hysterien als weitverbreitete
Verhaltensstörung definieren, die unter anderem durch Beeinträchtigung
der Wahrnehmung, durch emotionale Labilität, durch theatralischen Gestus
und egozentrischen Habitus charakterisiert ist, dann erklären sich
Phobien gegen andere Kulturen oder ganz unterschiedliche Minderheiten in
der eigenen Gesellschaft als Abwehrreflex." Was genau will man denn
abwehren?
Prof. Benz: Man hat Angst vor etwas, die
Angst kommt aus dem Inneren. Es ist die Existenznot in schwierigen
Zeiten. Es gibt sehr viele Probleme, und man
sucht nach Erklärungen dafür. Die einfachste Erklärung ist immer: Ein
anderer ist schuld! Das ist ein uralter Mechanismus. Man sucht nach dem
Sündenbock, nach einem anderen, der außerhalb des eigenen Lebenskreises
steht, der beispielsweise eine andere Religion hat, der andere
kulturelle Gewohnheiten hat, und stigmatisiert diesen als den "Fremden",
der am Unglück der Menschheit schuld ist. Das kennen wir schon lange,
das ist absolut nichts neues. So sind die Vorstellungen "Zuwanderer
nehmen uns die Arbeit weg", "Zuwanderer nehmen dem jungen Mann die
Mädchen weg" Phobien, Konstrukte, in die man sich hineinsteigern kann.
Es ist eine schlichte Welterklärung. Wenn ich jemanden, oder eine Gruppe
von Menschen, benennen kann, die aufgrund ihres vermeintlichen
Verhaltens, wegen ihres Andersseins, irgendetwas bewirken, dann habe ich
eine "schöne" Erklärung und muss nicht nach den komplexen und
schwierigen Ursachen für das Problem suchen, sondern es sind "die
Muslime", oder "die Afrikaner", oder früher "die Juden", die schuld
sind. Oder wie mir ein jüdischer Freund immer sagt: Mann kann jede
Gruppe stigmatisieren, die Radfahrer oder Brillen tragende Frauen oder
wen auch immer. Man muss nur dieser Gruppe bestimmte Eigenschaften
zuweisen, dann fühlt sich die Mehrheit durch diese Diskriminierung auf
sicherem Grund.
MM: Muslime bekommen in Deutschland mehr
Kinder als Nichtmuslime. Wie kann man unter diesen Umständen der
heutzutage weit verbreiteten und durch die Medien hoffähig gemachte
Befürchtung entgegen treten, die "Islamisierung Europas" erfolge über
das Wochenbett der muslimischen Frau, die Kopftuchkinder produziert?
Prof. Benz: Das ist nach aller Erfahrung
extrem schwer, ein solches Zerrbild aus den Köpfen wieder hinaus zu
befördern. Ich sage: Durch Aufklärung. Es gibt nur eine Möglichkeit;
Aufklärung, Information. Da müssen alle zusammen helfen, um ein
realistisches Bild der Wirklichkeit zu vermitteln und nicht mit diesen
Zuweisungen, die Angstschreie sind, operieren. Und da eignet sich der
Antisemitismus natürlich sehr gut als Vergleichsgegenstand, denn
Antisemitismus ist das größte Vorurteil der Welt, das man kennt. Und
durch die langen Traditionen bestätigt sich das anscheinend immer
wieder. Wenn also in den Vorstellungen der europäischen Mehrheit
bestimmte Abneigungen gegen Muslime vorhanden sind, die etwa auf die
"Türken vor Wien" des 16. Jahrhunderts zurückgehen, dann sehen wir darin
ein Beispiel für diese Tradition. Damals war die Angst und Abwehr gegen
die Türken gerichtet, weil man befürchtet hat, dass die Türken Europa
überrennen. Und wir können heute noch genauso feststellen, dass in dem
Schlagwort der "Islamisierung Europas" das Feindbild der "Türken vor
Wien" im Hintergrund steht.
MM: Einstmals wurde über den angeblich
schlimmen Inhalt des Talmud diskutiert. Heute maßen sich Nichtmuslime
an, den Heiligen Qur'an für Muslime ähnlich schlimm interpretieren zu
wollen. Was hätten damals Juden machen können, um die Friedfertigkeit
ihrer Religion zu erläutern, und was können heute Muslime im Land tun?
Prof. Benz: Das ist die schwierigste
Frage überhaupt. Wenn die Minderheit - damals die Juden, heute die
Muslime - allein gelassen wird, dann hat sie keine Chance. Die
Minderheit braucht Verbündete in der Mehrheit, die davon überzeugt sind,
dass diese Vorwürfe nicht richtig sind, und die auch ihre Überzeugung
energisch vertreten. Das ist das Wichtigste! Wenn nur die Minderheit
nach dem Motto handelt: "Schaut her, wir sind genauso gute und nette
Menschen, wie ihr. Schaut her, das ist unsere Religion, die ist zwar
anders, aber nicht schlechter als eure", wird das allein nicht
funktionieren, da ein Feindbild etwas Krankhaftes ist, eine Phobie, eine
Krankheit. Und man kommt allein mit rationalen Mitteln nicht dagegen an.
Mehr als alles andere hilft, so meine ich, eine Rede, wie sie der
Bundespräsident gehalten hat, weil diese eine unmittelbare Überzeugung
deutlich gemacht hat. Und ich glaube, es funktioniert dann ganz gut,
wenn die Eliten sich solidarisch mit der Minderheit erklären.
MM: Ihr Vergleich einstmaliger
Judenfeindlichkeit mit heutiger Muslimfeindlichkeit hat ihnen auch viel
Entrüstung entgegen schlagen lassen. Wie sind Sie damit umgegangen?
Prof. Benz: Gar nicht. "Entrüstung" ist
allerdings ein schwacher Ausdruck für das, was geschehen ist. Das war
Hass! Rufmordkampagnen sind gegen mich losgetreten worden, was mir umso
mehr beweist, wie hysterisch die Lage ist. Aber gegen eine Kampagne,
gegen Rufmordversuche sind rationale Entgegnungen nicht möglich. Man
reagiert dann auch wegen desNiveaus überhaupt nicht.
MM: Auf der anderen Seite ist nicht zu
bezweifeln, dass es unter manchen Muslimen Antisemitismus gibt. Andere
hingegen haben keinerlei rassistische Erwägungen sondern stellen sich
politisch gegen den Zionismus, wobei die Grenzen fließend ineinander
übergehen. Wie kann man Antisemitismus und Antizionismus
wissenschaftlich-historisch voneinander unterscheiden?
Prof. Benz: Das ist ziemlich schwierig,
aber durchaus machbar. Das betreibe ich in Büchern, Artikeln, Aufsätzen
seit langer Zeit. Antisemitismus ist grundsätzlich etwas anderes als
Antizionismus. Aber Antizionismus kann benutzt werden, um Antisemitismus
zu artikulieren, und das geschieht immer häufiger und immer öfter. Der
Denkfehler ist nur der, dass unterstellt wird, nur Muslime seien
Antizionisten. Antizionismus gibt es als Israelfeindlichkeit unter
Nichtmuslimen natürlich ebenso, wie unter Muslimen. Man muss eine
Feindschaft gegen den Staat Israel, gegen die Existenz des Staates
Israel, und eine Feindschaft gegen Juden unterscheiden – und muss dabei
aber wissen, dass Antisemitismus und Antizionismus durchaus in ein und
derselben Form auftreten können.
MM: Erlauben Sie abschließend eine
private Frage: Anfang nächsten Jahres scheiden Sie aus dem Amt der
Leitung des Zentrums für Antisemitismusforschung aus. Welche Pläne haben
Sie für die Zukunft?
Prof. Benz: Ich habe noch eine ganze
Menge zu tun. Ich stecke mitten in der Herausgabe eines Handbuches des
Antisemitismus. Der dritte Band wird in diesem Herbst vorgestellt, der
vierte im nächsten Frühjahr und sieben Bände gibt es. Da gibt es also
noch etliches zu tun. Ich habe rund vierzig Doktoranden, die weiterhin
betreut werden müssen. Und ich habe drei Bücher zu schreiben, die mein
Verlag seit langem von mir haben will. Das ist dann vielleicht der
Luxus, den ich mir leiste, denn es werden keine Bücher zum
Antisemitismus sein, oder nur höchst indirekt. Eines davon wird eine
Geschichte des Exils aus Deutschland sein, der erzwungenen Auswanderung
aus Deutschland unter dem Nationalsozialistischen Regime, in dem
Menschen wegen ihrer Religion fliehen mussten, oder wegen ihrer
Gesinnung. So bin ich dann doch immer noch im alten Bereich tätig.
MM: Sehr geehrter Her Prof. Benz, vielen
Dank für das Interview. |