Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Dr. W. Rügemer
 

Muslim-Markt interviewt
Dr. Werner Rügemer - Autor des Buches "Ratingagenturen - Einblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart"
23.4.2012

Werner Rügemer (Jahrgang 1941) ist in der Operpfalz geboren und aufgewachsen. Er studierte Literaturwissenschaft in München, Tübingen, Berlin und Paris. 1979 wurde er an der Universität Bremen zum Dr. phil promoviert. Seine Dissertation beschäftigte sich schon damals mit der allgemeinen Krise des Kapitalismus.

1975 bis 1989 war er Redakteur der pädagogischen Monatszeitschrift Demokratische Erziehung. Durch sein zahlreichen freien Publikationen konnte er sich eine gewisse Unabhängigkeit aufbauen, die er auch als Lehrbeauftragter an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln in der Lehre umsetzt. Werner Rügemer gilt vor allem als Experte auf dem Feld der Banken- und Unternehmenskriminalität. Seine zahlreichen Bücher führten auch zu einigen Prozessen gegen große Banken und Wirtschaftsimperien. Seine vielen Mitgliedschaften und Auszeichnungen, darunter der Journalistenpreis des Bundes der Steuerzahler sowie den Kölner Karls-Preis der NRhZ-Online – Neue Rheinische Zeitung. Sein neustes Buch heißt "Ratingagenturen - Einblicke in die Kapitalmacht".

Dr. Werner Rügemer war verheiratet, hat zwei inzwischen verheiratete Söhne und lebt in Köln.

MM: Sehr geehrter Herr Dr. Werner Rügemer. Ihr Leben kann als voller Kampf und Einsatz gegen den Kapitalismus empfunden werden. Von Auseinandersetzungen gegen Banken wie Sal. Oppenheim über die Kölner Müllverbrennungsanlage und den Präsidenten eines Bundesligaclubs bis zum es Verband kommunaler Unternehmen (VKU), die sie ursprünglich ja ausgezeichnet hatten, haben Sie schon so manches Gefecht vor Gericht ausgetragen. Was treibt sie?

Dr. Rügemer: In meiner Jugend habe ich mit den Armen in den "Entwicklungsländern" mitgefühlt. Während des Studiums habe ich die genaueren Ursachen verstanden, auch die Ursachen für die Ungerechtigkeiten in Deutschland und gerade in den am höchsten "entwickelten" Gesellschaften. Gegenwärtig beschäftigt mich vor allem das Problem des Arbeits-Unrechts. Zur Gerechtigkeit, die mich antreibt, kommt die Wahrheit, der ich aus philosophischem Impuls verpflichtet bin.

MM: Sind Sie immer noch für ein Springer-Tribunal oder war jene Forderung der Eifer der Jugend?

Dr. Rügemer: Das Springer-Tribunal, das ich 1968 in Berlin mit vorbereitet habe und das sich gegen die Praktiken der BILD-Zeitung richtete, wäre heute genauso wichtig. Meine Gegenstände und Formen der Kritik und des Widerstands haben sich inzwischen geändert, aber noch 2010 habe ich in der Organisation attac vorgeschlagen, ein Banken-Tribunal durchzuführen. Das Tribunal fand in Berlin statt. Zahlreiche Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre und Bertrand Russell haben in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg Tribunale organisiert, etwa gegen den US-Krieg in Vietnam, auch in den letzten Jahren fanden zahlreiche Tribunale in Afrika und Lateinamerika statt. Das ist keine überholte Form der Anklage, der Kritik und der Urteilsfindung.

MM: Müsste es dann nicht ein Merkel-Tribunal von Intellektuellen in Deutschland geben angesichts der Intensität mit der die Bundeskanzlerin Deutschland an die Seite von Staaten manövriert hat, die man wegen Besatzung, Kriegsverbrechen (z.B. Einsatz von Uranmunition im Irak und Überfall auf souveräne Staaten ohne UN-Mandat) anklagen müsste und die mit dem "Recht des Stärkeren" tagaus tagein "Präventivschläge" androhen finanziert mit Geldern, die man gar nicht hat?

Dr. Rügemer: Bundeskanzlerin Merkel war bereits angeklagte beim Bankentribunal 2010 wegen Mitverantwortung für die Finanzkrise. Ihre Taten für weitere Tribunale wären gewiss vorhanden. Anklagen wegen Mitverantwortung bei Lieferung von Waffen in Spannungsgebiete und an diktatorische Regimes (U-boote an Israel, Panzer an Saudi-arabien...) kämen dazu. Es ist allerdings das Problem, dass es gegenwärtig zahlreiche Gründe und Personen gibt, die vor ein Tribunal gehören. Das Instrument kann sich abnutzen. Und ob das Tribunal von intellektuellen organisiert werden muss, ist nicht zwingend, aber es müssen wichtige Unterstützer mitmachen und es muss um eine zentrale Frage gehen, die noch gewichtiger ist als die anderen wichtigen fragen. Es sind meines Erachtens nur pragmatische Gründe, die mir gegenwärtig ein Tribunal ungeeignet erscheinen lassen.

MM: Sie haben im Bereich der Privatisierung öffentlichen Eigentums durch Cross-Border-Leasing und Public Private Partnership (PPP) belegt, dass entgegen öffentlichen Behauptungen der Staat den Unternehmen und Banken das Risiko abnimmt und Gewinne garantiert, was durch die prinzipielle Geheimhaltung der Verträge, Beschlüsse und Nebenabreden abgesichert werde. Wie ist es in unserer heutigen Medienlandschaft noch überhaupt möglich, dass derartige Verträge öffentlicher Stellen zum Schaden des Volkes geheim gehalten werden können?

Dr. Rügemer: Es ist richtig: Die Medienlandschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr stark erweitert und differenziert. Aber gerade wegen dieser Bedeutung für moderne Gesellschaften haben mächtige Finanzgruppen sich die am meisten verbreiteten Medien gekauft oder haben neue geschaffen. Dieser Einfluss hat auch auf die öffentlichen Medien übergegriffen - sie sind keine Korrekturinstanz mehr, jedenfalls nicht in den wichtigen Fragen der Gerechtigkeit und der Demokratie. Umso mehr setzen sie auf hochgepuschte und manipulierte Themen. Sie attackieren ausgewählte, tatsächliche oder angebliche Diktatoren, die der "westlichen" Macht entgegenstehen; aber sie schützen gleichzeitig andere Diktatoren, die dem Westen dienlich sind. Genauso decken diese Medien familiären Kleinkram bei Politikern auf (eigentlich nie bei den Managern und Eigentümern von Banken und Konzernen) wie zuletzt bei dem deutschen Bundespräsidenten Wulff, aber die jahrzehntelang gültigen Geheimverträge wie zu Cross Border Leasing, Public Private Partnership, Privatisierungen und Bankenrettungen decken sie nie auf. Die großen Medien stehen heute einseitig auf der Seite der Kapital-Macht.

MM: Kann man das im Internetzeitalter so einfach darstellen? Wo bleibt die Verantwortung des Bürgers in Ihren Betrachtungen, denn schließlich ist ja niemand verpflichtet, die Bild-Zeitung zu kaufen und im Internet gibt es inzwischen durchaus ansehnliche Alternativangebote? Oder anders gefragt: Ist das, was sie im "Großen" beschreiben, nicht ein Spiegelbild unseres Kollektivs?

Dr. Rügemer: "Wir" in der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft sind gegenwärtig kein "Kollektiv", sondern eine gemischte, vielfältige, zufällige Zwangsversammlung von Vereinzelten Individuen und vereinzelten Gruppen/Organisationen. dadurch, dass wir das "Internetzeitalter" haben - ich halte das Internet übrigens nicht für ausreichend, um das wesentliche unseres Zeitalters zu charakterisieren - hat sich das verhalten der Bürger noch nicht geändert. Gut, durch das Internet sind einige Kommunikationswege leichter. Die sollten "wir" nutzen und das tun ja auch schon viele. Aber Kommunikation ist noch kein gemeinsames demokratisches handeln. Da müssen sich Menschen erstmal persönlich treffen.

MM: In Ihrem 2006 erschienenen Buch über die größte Privatbank Europas legen Sie sich ja nicht gerade mit einem "Kleinen" an. Die Folge waren 22 gerichtlich veranlasste geschwärzte Passagen in dem Buch. Wollen sie noch immer behaupten, dass die Bank "kriegswichtiges" Finanzinstitut für das NS-Regime und an Arisierungen beteiligt war? Ist das nicht antisemitisch?

Dr. Rügemer: Ich habe keineswegs einfach behauptet, dass die Bank Sal. Oppenheim für das NS-Regime eine "kriegswichtige" Bank war. Ich habe das mit Dokumenten belegt. Dieses Faktum – wie die Beteiligung der Bank an der Arisierung jüdischen Eigentums - wurde von der Bank in den zahlreichen juristischen Verfahren auch nie infrage gestellt. Das von der Dresdner Bank selbst in Auftrag gegebene Forschungsprojekt über die Dresdner Bank während des Nationalsozialismus enthält weitere solche Belege, denn die Bank Oppenheim hat eng mit der "SS-Bank" Dresdner Bank zusammengearbeitet. Das hing auch damit zusammen, dass der Mitgesellschafter der Bank Oppenheim, Robert Pferdmenges, 1930 Regierungsberater bei der staatlichen Rettung der bankrotten Dresdner Bank war und dann in deren Aufsichtsrat vertreten war. Der Vorwurf des Antisemitismus gegen mich ist also absurd. Vielmehr müsste man die ehemals jüdische Bank Oppenheim als antisemitisch bezeichnen, da sie an Arisierungen beteiligt war. Von den 22 geschwärzten Stellen haben die Gerichte inzwischen die Hälfte freigegeben; die restlichen Stellen korrigiere ich gerne, z.B. dass Alfred von Oppenheim nicht Vorstandschef, sondern Sprecher der persönlich haftenden Gesellschafter war - die Privatbank Oppenheim hatte damals keinen Vorstand nach Aktienrecht, diese Funktion wurde vielmehr von den vier persönlich haftenden Gesellschaftern eingenommen; dieser rechtliche Unterschied spielt für die das allgemeine Publikum keine Rolle.

MM: Sie werfen der "westlichen Wertegemeinschaft" vereinfacht dargestellt vor, dass die Korruption und Selbstbereicherung von ungewählten Eliten die Demokratie gefährdende Ausmaße erreicht hat. Warum wählen wir sie dann zumindest nicht ab?

Dr. Rügemer: Warum wählen wir die westlichen Regierungen nicht ab, die seit Jahrzehnten von Banken und Konzernen finanziert und korrumpiert werden? Ein Grund sind die oben genannten Medien, die in diesen Angelegenheiten die Wahrheit verschweigen. Ein weiterer Grund ist zum Beispiel in Deutschland, dass zwei wichtige dieser Parteien sich als "christlich" bezeichnen und enge Beziehungen zu den christlichen Großkirchen pflegen. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung lehnt die Praktiken der Banken, der Lobbyisten, die Korruption und Selbstbereicherung ab, aber sie hat Angst vor Neuem. Ich hoffe, dass sich das ändert.

MM: In Ihrem neusten Buch geht es um eine Art Wirtschaftskrieg, in dem die Ratingagenturen eine wirksame Waffe zur Unterdrückung von Europäern zu sein scheinen. Warum haben wir Europäer keine wirksame Gegenwaffe oder zumindest die gleiche Waffe?

Dr. Rügemer: "Wir Europäer": dieses "Wir" gibt es nicht, leider. Die Regierungen, Großmedien, die EU-Kommission, die großen europäischen Banken und Konzerne haben sich unter den militärischen Schutz der USA gestellt und haben die Finanz- und Wirtschaftspraktiken der westlichen Führungsmacht übernommen. So haben auch die EU-Kommission, die Europäische Zentralbank (EZB) und die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten die Vorherrschaft der drei führenden US-Agenturen anerkannt. Auch die vom EU-Parlament mehrheitlich beschlossene europäische Ratingagentur soll nach US-Vorbild funktionieren: Sie soll nicht staatlich sein, sondern in der Hand privater Sponsoren. Daraus kann keine Alternative entstehen. Bekanntlich haben sich die meisten EU-Regierungen geweigert, Volksabstimmungen über den Euro und die EU-Verfassungstexte abzuhalten. Gegenwärtig werden die riesigen "Rettungs"pakete für Griechenland und so weiter ohne die notwendige Beteiligung der Parlamente in Deutschland, Frankreich und so weiter beschlossen. Es gibt kein europäisches "Wir". Die Mehrheiten in den EU-Staaten müssen sich jetzt selbst und direkt zusammenschließen und den Weg zu einem demokratischen Europa gehen.

MM: Ist denn Europa - mit dem US-U-Boot Großbritannien - stark genug, um sich von dem US-Imperialismus zu befreien? Und ist das überhaupt möglich ohne realistische Alternativmodelle zum Kapitalismus?

Dr. Rügemer: Die gegenwärtig in der EU herrschenden Kräfte arbeiten bei aller relativen Konkurrenz sehr eng, wenn auch oft verdeckt, mit den herrschenden US-Kräften zusammen. So kann natürlich keine Alternative entstehen. Die bisherige EU und der Euro sind aus Sicht der Mehrheit und der Demokratie gescheitert. Deshalb unterstütze ich den Vorschlag, Europa neu zu gründen. Ich habe den Vorschlag gemacht, einen demokratischen europäischen Konvent einzuberufen.

MM: Wenn man Ihre Worte auf die Spitze treibt, dann müsste man neben der derzeitigen Politik, darunter die mächtigsten Parteien, auch die Medienmacht und damit die größten Verlagshäuser und zudem die Finanzmacht, darunter die weltgrößten Banken und einige mehr entmachten, um halbwegs demokratische und vor allem gerechte Verhältnisse zu erzielen. Woher soll der "kleine Mann" bei dieser Konstellation Hoffnung erhalten, dass er jemals auch nur einen Hauch von Gerechtigkeit anstreben kann, wenn sie auch noch die Kirchen in jene Front einreihen?

Dr. Rügemer: Die gegenwärtig herrschenden Kräfte können sich schon lange nicht mehr auf eine aktive Mehrheit stützen, sie regieren mithilfe von Minderheiten und widerwilliger Zustimmung. Der "kleine Mann" - zusammen mit der "kleinen Frau"!! - sie sind nur schwach, wenn sie nicht zu neuen und auch schon erprobten Formen des Zusammenhalts und der Zusammenarbeit finden.

MM: Herr Dr. Rügemer, wir danken für das Interview.

Links zum Thema

Senden Sie e-Mails mit Fragen oder Kommentaren zu dieser Website an: info@muslim-markt.de 
Copyright © seit 1999 Muslim-Markt