Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Petra Wild
 

Muslim-Markt interviewt
Petra Wild, Autorin des Buches „Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina“
30.4.2013

Petra Wild, geboren 1963 in Aarbergen (Hessen), studierte zwischen 1989 und 1994 Arabisch am Notre Dame-Institut im arabischen Jerusalem, als Gasthörerin an der Universität Leipzig und am Institut des Études arabes in Damaskus. Damit konnte sie ihr bereits seit 1982 bestehendes Interesse für Palästina und die arabische Welt vertiefen. Ab 2000 studierte sie Islamwissenschaft am Institut für Afrika- und Asienwissenschaften der Humboldt-Universität in Berlin und schloss ihr Studium 2008 ab. Seither arbeitet sie als freiberufliche Islamwissenschaftlerin und Publizistin vor allem zum Thema Palästina-Frage und zu den Revolutionen in der arabischen Welt. In diesem Rahmen hat sie zahlreiche Artikel in politischen Zeitschriften und Online-Zeitungen veröffentlicht, unter anderem zum Gaza-Krieg Israels 2008/2009, zur Ein-Staat-Lösung und zum Sturm auf die israelische Botschaft in Kairo 2011.

Petra Wild ist geschieden und lebt im Berlin.

Das Foto wurde veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Blogs Tintenhain

MM: Sehr geehrte Frau Wild, was hat sie als Teenagerin dazu bewegt, sich ausgerechnet mit der arabischsprachigen Welt zu beschäftigen?

Wild: Ich war in den 1980er Jahren in der linksradikalen Bewegung aktiv. Da wir für eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gekämpft haben, war die Solidarität mit denjenigen, die in anderen Teilen der Welt ebenfalls um Befreiung und Gerechtigkeit kämpfen, selbstverständlich. Die Palästina-Frage rückte durch den 1. Libanon-Krieg 1982 in mein Blickfeld. Seitdem nimmt sie eine wichtige Rolle in meinem Leben ein. Früher war sie ein Schwerpunkt meiner politischen Aktivität, heute ist sie der Schwerpunkt meiner wissenschaftlichen Arbeit.

MM: Was war ihre Motivation zu ihrem jüngsten Buch „Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina“?

Wild: Da kommen mehrere Faktoren zusammen. Zum einen geht mir die permanente Desinformation und Manipulation rund um die Palästina-Frage auf die Nerven, zum anderen finde ich die Debatte hierzulande verglichen etwa mit dem englischsprachigen Raum extrem rückständig. Seit dem Gaza-Krieg 2008/2009 haben neue Analysen und Begriffe Eingang in die internationale Debatte gefunden. So fand zum Beispiel im letzten Jahr an der School for Oriental and African Studies (SOAS) in London eine Konferenz zum Thema Zionismus und Siedlerkolonialismus statt. Ich wollte einerseits zusammentragen, was von Forschern zum Thema zionistischer Siedlerkolonialismus schon gesagt worden ist, um es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, und andererseits den Siedlerkolonialismus-Ansatz weiterentwickeln, indem ich die israelische Politik konsequent daraufhin untersuche. Außerdem wollte ich gerne über die Ein-Staat-Lösung schreiben, die ebenfalls mit dem Gaza-Krieg in den Vordergrund gerückt ist, da ich in ihr die einzige Möglichkeit sehe, den seit nunmehr über 130 Jahren andauernden Konflikt auf eine gerechte und humane Weise zu lösen.

MM: Sie stellen den Zionismus als eine Form des europäischen bzw. westlichen Siedlerkolonialismus dar. Wie begründen sie das?

Wild: Der Zionismus und seine Verkörperung, der Staat Israel, weisen alle für den europäischen Siedlerkolonialismus charakteristischen Merkmale auf. Der Begriff Siedlerkolonialismus bezeichnet die in der Regel gewaltsame Einnahme und bevölkerungspolitische Neuordnung von Gebieten außerhalb Europas durch einwandernde europäische Siedler. Gerechtfertigt wird dies typischerweise mit biblischen Versprechungen, der angeblichen zivilisatorischen Rückständigkeit der einheimischen Bevölkerung sowie der Behauptung, das Land sei menschenleer gewesen, als die Siedler kamen. Die einheimische Bevölkerung, deren Existenz den Siedlern natürlich immer bekannt war, wird als so minderwertig angesehen, dass auf ihre Rechte und Bedürfnisse keinerlei Rücksicht genommen werden muss. Jeder Siedlerkolonialismus geht mit einem ausgeprägten Rassismus einher, der zur Legitimation des kolonialen Projekts unverzichtbar ist. Ich zeige in meinem Buch auf, dass das auch auf Israel zutrifft.

MM: ... und wie wirkt sich dieser Siedlerkolonialismus praktisch aus?

Wild: Je nachdem, ob die einheimische Bevölkerung als billige Arbeitskräfte gebraucht wird wie in der ehemaligen französischen Siedlerkolonie Algerien oder dem ehemaligen Apartheidstaat Südafrika (Ausbeutungskolonialismus) oder ob sie nicht gebraucht wird (reiner Siedlerkolonialismus), entwickeln die Siedlerstaaten unterschiedliche Techniken im Umgang mit ihr. Israel ist wie die USA, Australien und Neuseeland ein reiner Siedlerkolonialismus, der darauf abzielt, die einheimische Bevölkerung möglichst vollständig durch die europäische bzw. europäisierte Siedlerbevölkerung zu ersetzen. Deswegen ist die ethnische Säuberung das Hauptmerkmal der zionistischen Politik. Sie hat nach der breitflächigen Vertreibung der Palästinenser 1948 nicht aufgehört, sondern wird seitdem sowohl innerhalb der Grünen Linie - also dem Kernstaat Israel - als auch in den 1967 besetzten Gebieten schleichend fortgesetzt. Durch fortgesetzten Landraub, stets weiter vorrückenden Siedlungsbau, die systematische Zerstörung der Lebensgrundlagen und die kontinuierliche Terrorisierung durch Siedler und Soldaten wird die palästinensische Bevölkerung auf stets kleiner werdenden Flächen zusammengedrängt. Diese Dynamik ist typisch für den Siedlerkolonialismus. Ebenso typisch ist der ethnokratische Charakter des Staates Israel, also die Herrschaft einer Ethnie über eine andere, die im Gegensatz zur Demokratie steht. In dieser ethnokratischen Herrschaftsstruktur ist die Apartheid, die sich in den letzten Jahren in der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern immer deutlicher zeigt, bereits angelegt. Meine Analyse basiert auf den Erkenntnissen internationaler Kolonialismus- und Genozidforscher wie Patrick Wolfe und Martin Shaw, kritischer israelischer Wissenschaftler wie Moshe Machover, Oren Yiftachel und Ilan Pappe und palästinensischer Wissenschaftler wie Jamil Hillal.

Ein Leser meines Buches sagte mir, dass es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen sei. Es werde auf einmal so klar, so offensichtlich, dass Israel ein siedlerkolonialistischer Staat ist, dass er sich frage, warum er nicht schon früher darauf gekommen ist.

MM: Bei solch schweren Anschuldigungen gegen Israel dürfte ihnen der Vorwurf des Antisemitismus aus bestimmten Kreise sicher sein. Wie gehen Sie damit um?

Wild: Das Wort Anschuldigung ist ganz unzutreffend für das, was ich tue. Ich erhebe keine Anschuldigungen - dieses Wort kommt ja aus der juristischen oder moralischen Sphäre -, ich mache eine Analyse. Ich orientiere mich an der kritischen Theorie, und da geht es darum, die Sache selber zum Sprechen zu bringen bzw. durch die oberflächliche Ebene der Erscheinungen auf das Wesen der Sache zu kommen. Das Buch ist die Zusammenfassung eines Erkenntnisprozesses, der zu den vorliegenden Ergebnissen geführt hat.

Der Antisemitismusvorwurf wird gegenüber Politikern, Publizisten oder Wissenschaftlern immer dann erhoben, wenn in der Sache Einwände nicht möglich sind. Wenn man keine Argumente und Sachverhalte hat, die das, was vorgetragen wurde, widerlegen können, greift man mit dem Antisemitismusvorwurf zur moralischen Diffamierung in der Hoffnung, dass sich der Betreffende von seinen eigenen Erkenntnissen distanziert und/oder die Öffentlichkeit ihn ohne weiteres Nachfragen verurteilt. Damit soll auch eine Beschäftigung mit der Sache, um die es geht, verhindert werden. Meiner Beobachtung nach wird diese Demagogie jedoch immer mehr als solche durchschaut. Möglichen Antisemitismusvorwürfen stehe ich gelassen gegenüber.

MM: Sie analysieren nicht nur sondern zeigen auch einen Weg zum Frieden durch die sogenannten Einstaaten-Lösung auf. Wäre das nicht das Ende Israels als jüdischen Staat?

Wild: Ja natürlich, aber in einem multireligiösen, multikulturellen Land wie Palästina es ist und immer war, kann der exklusive Staat einer einzigen Religionsgemeinschaft, die von der zionistischen Bewegung auch als Ethnie definiert wird, nur ein rassistischer Staat sein. Die einzige Alternative dazu ist ein demokratischer, säkularer Staat, in dem Juden, Christen und Muslime mit gleichen Rechten auf der Basis einer gemeinsamen Staatsbürgerschaft zusammenleben. Das Projekt des demokratischen, säkularen Staates auf dem Boden des historischen Palästinas, das seit einigen Jahren von Palästinensern und antizionistischen Israelis diskutiert wird, beinhaltet die Aufgabe der kolonialen Privilegien durch die jüdisch-israelische Bevölkerung und die Bereitschaft der palästinensischen Bevölkerung, nach der Wiederherstellung der Gerechtigkeit zu verzeihen und mit ihren ehemaligen Kolonialherren zusammenleben. Wiederherstellung der Gerechtigkeit bedeutet zuallererst die Umsetzung des von der UNO garantierten Rechts auf Rückkehr und Entschädigung der 1948 und danach vertriebenen Palästinenser zu ihren Herkunftsorten. Wie antizionistische Israelis und Palästinenser gleichermaßen betonen, bedeutet Entkolonisierung in Palästina Entzionisierung. Das schließt die Beseitigung der Apartheidgesetze und -infrastruktur, die Rückgabe des geraubten Landes und Eigentums und die Überwindung der rassistischen zionistischen Ideologie ein.

MM: Aber gibt es nicht in der gesamten Welt - nicht nur in Israel - mächtige Kräfte, die das zu verhindern suchen, schließlich ist die Verteidigung Israels "als jüdischer Staat" ja neuerdings auch deutsche Staatsdoktrin. Stellt Ihr Buch nicht einen Angriff auf die deutsche Staatsdoktrin dar?

Wild: Ich bin Wissenschaftlerin, keine Ideologin. Es ist nicht meine Aufgabe, die Interessen der Herrschenden zu bedienen, sondern Sachverhalte zu analysieren und daraus Erkenntnisse zu formulieren, die ich der kritischen Öffentlichkeit zur Verfügung stelle. Die Politik der westlichen Regierungen gegenüber Israel ist ein Teil des Problems. Da diese den zionistischen Staat politisch, ökonomisch und militärisch massiv unterstützen und privilegiert behandeln, sind sie mitverantwortlich - wenn nicht hauptverantwortlich - für dessen kontinuierliche Kriegsverbrechen (z.B. Siedlungsbau in besetzten Gebieten) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (z.B. Apartheid). Die Veränderung der offiziellen Politik gegenüber Israel erfordert jedoch eine grundlegende Veränderung der Kräfteverhältnisse in Deutschland und jedem anderen westlichen Land.

MM: Die Religionsgemeinschaft des Judentums wird von der zionistischen Bewegung auch als Ethnie definiert. Das ist aber nicht nur in Israel so, sondern auch in Deutschland und anderen Ländern. Sie haben offensichtlich Kontakt zu Menschen jüdischen Glaubens, die das Judentum allein als Religionsgemeinschaft sehen und z.B. deutsche Juden sind, wie es deutsche Christen und deutsche Muslime gibt. Warum sind diese Menschen so leise?

Wild: Das Judentum als Religionsgemeinschaft und nicht als Ethnie zu behandeln, ist keine subjektive Meinung, die auf persönlichen Kontakten basiert. Das ist vielmehr der neuste wissenschaftliche Erkenntnisstand. Der kritische israelische Historiker Shlomo Sand hat 2009 das Buch „The Invention of the Jewish People“ vorgelegt, in dem er aufzeigt, wie und aus welchen Interessen heraus, das Judentum beginnend ab dem 19. Jahrhundert als „Volk“ konstruiert wurde.

Und zum letzten Teil Ihrer Frage möchte ich sagen, dass kritische jüdische Menschen gar nicht mehr so leise sind. Sie werden in der Öffentlichkeit nur nicht so wahrgenommen, weil ihre Positionen von den Mainstream-Medien weitgehend ausgeblendet werden. Nichtsdestotrotz gibt es sie. Bis zur 2.Intifada gab es hierzulande nur einen bekannten jüdischen Antizionisten: den leider vor einigen Jahren verstorbenen Fritz Teppich. Mittlerweile gibt es Dutzende, wenn nicht hunderte zumindest zionismuskritischer jüdischer Menschen. Meiner Erfahrung nach sind viele von ihnen in der Palästina-Solidarität aktiv. Auch in anderen westlichen Ländern hat die Zahl antizionistischer oder zionismuskritischer jüdischer Menschen seit der 2.Intifada und infolge der israelischen Kriege gegen den Libanon 2006 und den Gaza-Streifen 2008/2009 kontinuierlich zugenommen. Als Ausdruck dieses Prozesses wurde 2007 das „Internationale Jüdische Antizionistische Netzwerk (IJAN)“ gegründet, das vor allem in den USA aktiv ist.

MM: In wie weit wird in Ihrem Buch die Rolle der Westlichen Welt bei dem Voranschreiten des Siedlungskolonialismus in Palästina beleuchtet?

Wild: Das ist nicht der Schwerpunkt des Buches. Natürlich erwähne ich die Rolle der USA und der EU an konkreten Punkten wie der Blockade des Gaza-Streifens oder dem Aufbau polizeistaatlicher Strukturen in der Westbank. In meinem Buch wird die innere Dynamik des zionistischen Siedlerkolonialismus untersucht, nicht seine Funktion innerhalb des westlichen imperialistischen Staatensystem und die daraus resultierende Unterstützung. Das müsste Gegenstand einer eigenen Studie sein.

MM: Welche Arbeiten haben Sie für die Zukunft geplant? Gibt es neue Buchprojekte?

Wild: Gegenwärtig arbeite ich an einem Buch mit dem Arbeitstitel „Revolution und Konterrevolution in der arabischen Welt.“

MM: Frau Wild, wir danken für das Interview.

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